Was die Einschätzung von Gesundheitsrisiken angeht, hat die Medizin noch viel zu lernen: Das zeigten Experten bei den Gesundheitsgesprächen in Alpbach auf und belegten das mit diesen Beispielen. 

Rotes Fleisch ist genauso schädlich wie Rauchen? "Die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) hat verarbeitetes Fleisch als Krebserreger eingestuft. Das Problem liegt darin, dass es damit mit dem Rauchen und Asbest in eine Kategorie fällt", sagte Ian Johnson vom britischen Institut für Ernährungswissenschaften in Norwich.

Der Unterschied im Beitrag von Fleischkonsum zu Dickdarmkrebs und dem Rauchen beim Lungenkrebs sei enorm, werde aber so nicht in Relation gestellt. Immerhin ist Tabakkonsum für rund 20 Prozent aller Krebserkrankungen (85 Prozent der Lungenkarzinome) verantwortlich. Starker Fleischkonsum wird mit einem Risikoanteil für Dickdarmkarzinome von um die 20 Prozent kalkuliert. Das sind eklatante Unterschiede.

Der Body-Mass-Index bestimmt das Normalgewicht? Ein anderes Beispiel ist der Body Mass Index (BMI), bei dem seit Jahren propagiert wird, dass ein Wert von 18 bis 25 Normalgewicht bedeute, dann das Übergewicht beginne - mit einem Indexwert von mehr als 30 als Fettsucht.

Jeffrey Hunger von der Abteilung für Psychologie und Hirnforschung der Universität von Kalifornien (Santa Barbara) sagte: "Der BMI ist ein schlechter Prognosefaktor für Gesundheit. In den USA fallen dadurch 74 Millionen Menschen in eine falsche Kategorie." Millionen von ihnen seien gesund, obwohl sie laut BMI als "krank" eingestuft würden, Millionen Menschen seien eigentlich krank, obwohl der BMI sie als "gesund" darstelle.

"Übergewicht stigmatisiert, macht Stress und führt zu einem zwei- bis dreifach höheren Risiko für Substanzabhängigkeit", sagte Hunger. "Es wäre viel sinnvoller, nicht einen bestimmten BMI als Zielwert anzupeilen, sondern harte Parameter, wie den Blutdruck oder die Blutzuckerwerte, als Ziele anzusehen."

Mammografie rettet Leben? Ein anderes Beispiel für Mythenbildung seien die oft übertriebenen Effekte von Screeningprogrammen auf Krebserkrankungen, sagte Diana Miglioretti von der Abteilung für Biostatistik der Universität von Kalifornien. "Da gibt es den Mythos von Frauen, dass das Mammografie-Screening ihr Leben gerettet hätte. Es rettet eine von zehn Frauen, bei denen dadurch ein Mammakarzinom entdeckt worden ist."

Doch auch das umgekehrte Pauschalurteil, dass das Mammografie-Screening überhaupt nichts bringe, sei falsch, führte die Expertin aus: "In manchen Altersgruppen rettet es Menschenleben." Die Wahrheit liegt immer irgendwo zwischen euphorischen Erwartungen und ultrapessimistischem Nihilismus.

Viele Dogmen sind Mythen

Im Nachhinein bewertet ("retrospektiv") stellen sich jedenfalls viele Dogmen der Medizin nach wie vor als Mythen heraus. Dies betonte der finnische Orthopäde und Unfallchirurg Teppo Järvinen.

Eine Analyse der im New England Journal of Medicine zwischen 2001 und 2010 erschienen Studien mit 363 in der Medizin praktizierten Therapien etc. hätte folgendes ergeben: "Ein erheblicher Teil dessen, was wir tun, ist nichts anderes als medizinischer Abfall." 38 Prozent der beurteilten Maßnahmen im Rahmen von "Behandlungsstandards" hätten sich als unwirksam oder schädlich, keinesfalls als Fortschritt, herausgestellt.