Mit "Wolke 9" läuft derzeit ein Film über Liebe und Sex im Alter im deutschen Kino. Dass es hier um eine berührende Dreiecksgeschichte geht, wird kaum wahrgenommen. Alle reden nur von den Sexszenen. Warum ist das Thema so ein Aufreger?
RUTH WESTHEIMER: Weil noch vor ein paar Jahren alle gedacht haben, dass Sex nur etwas für junge Menschen ist, dass mit dem "Wechsel" das Interesse daran erlischt. Oft meinten die eigenen Enkel: "Was, die haben noch Sex? Das ist doch unerhört." Deshalb habe ich das Buch "Silver Sex" geschrieben, weil es nach der Menopause wichtige Dinge gibt, die man den Leuten beibringen muss. Mit der Libido, also mit der Lust auf Sex, hat das alles nichts zu tun. Es geht um physiologische Dinge. Etwa, dass Frauen im Alter eine Salbe benützen müssen, damit ihre Scheide nicht trocken ist. Und dass ein Mann ab einem gewissen Alter (eine genaue Zahl kann man da nicht nennen) körperlich berührt werden muss, damit er eine Erektion bekommt.

Wüssten die Leute mehr über ihren Körper, hätten sie mehr Sex?
WESTHEIMER: Ja. Wenn ein Paar eine gute Beziehung führt und sie beim Verkehr Schmerzen hat, dann will er ihr doch keinesfalls weh tun. Dann sagen sich die beiden halt: Na gut, dann ist es eben vorbei. Und im umgekehrten Fall, wenn er sich darüber grämt, dass seine Erektion nicht mehr so stark ist wie früher oder er sie ganz verloren hat, sagt sie sich bestimmt, dass sie ihn ja nicht blamieren oder traurig machen wolle. Damit ist der Sex auch vorbei. Außerdem sieht man im Kino und auf der Bühne bei Sexszenen immer nur junge Leute. Wir brauchen mehr Filme, bei denen die Leute lernen, wie sie ihre Sexualität im Alter genießen können.

Das sexuelle Verlangen selbst lässt nie nach?
WESTHEIMER: Nein, solange man gesund ist, nie. Das Einzige, was nachlässt, ist die Intensität des Orgasmus. Das hat aber nichts mit dem Gefühl zu tun. Im Gegenteil: Ältere Menschen sehnen sich nach körperlicher Zuwendung.

Ist der Verlust der körperlichen Attraktivität nicht ein Hemmschuh für die Lust?
WESTHEIMER: Wenn man sich auf den Bauch oder die Falten konzentriert, hindert einen das natürlich am Sex. Man muss sich auf das konzentrieren, was einem gefällt: wie zum Beispiel die Augen. Und man muss sich sagen: Gott sei dank, ich lebe!

Stimmt das Klischee, dass Männer mehr Sex wollen als Frauen?
WESTHEIMER: Das kommt immer auf den Einzelfall an. Es gibt Frauen, denen viel mehr am Sex liegt als ihren Männern.

An einem Problem ändert freilich alle Aufklärungsarbeit nichts: Einer der Partner bleibt im Alter meist allein übrig.
WESTHEIMER: Ein großes Problem. Das Einzige, was ich denen, die übrig bleiben, sagen kann, ist: Freut euch, dass ihr eine gute Beziehung hattet. Und wenn ihr sexuell erregt seid: Befriedigt euch selbst - auch wenn ihr es früher nie gemacht habt. Aber darüber wird noch immer kaum und nur sehr ungern gesprochen. Ebenso wie über das Problem, dass immer vier Menschen in einem Bett liegen, wenn eine Witwe und ein Witwer ein Paar werden. Man nimmt ja alles, was man früher erlebt hat, mit ins Bett mit dem neuen Partner. Und das ist auch in Ordnung, aber man darf es dem anderen nicht erzählen. Niemals einen Vergleich anstellen!