Sie begleiten und betreuen fast täglich sterbende Menschen. Was denken Sie, wenn Sie als Palliativschwester Debatten über das Recht auf einen selbstbestimmten Tod hören?

INGRID MARTH: Selbstbestimmung ist ein Recht, das wir uns während des ganzen Lebens herausnehmen. Das Autonomiebedürfnis jedes Menschen ist hoch und geht bis zum letzten Moment, wenn es zum Sterben geht. Ich habe aber noch nie einen Menschen erlebt, weder in der Geriatrie noch jetzt in der Begleitung von Schwerkranken und Sterbenden, der den Wunsch nach Euthanasie geäußert hat. Es gibt Situationen, in denen Menschen bei intensiven Schmerzen sagen, dass sie nicht mehr können und den Wunsch äußern, sterben zu wollen - aber nicht den Wunsch nach aktiver Sterbehilfe.

Verraten Sie uns den Grund, warum Sie sich vor vier Jahren entschieden haben, Sterbende mobil zu pflegen und zu begleiten?

MARTH: Ich habe schon früh gewusst, dass ich das einmal machen werde. Als ich jünger war, wollte ich Menschen betreuen, die ins Spital kommen, operiert werden, gesund werden und wieder nach Hause gehen. Irgendwann habe ich gewusst, dass mir das nicht mehr genügt. Auch weil es im Spital eine Fließbandarbeit gewesen ist. Es gab keine Zeit, sich hinzusetzen, ein Wort mit Patienten zu reden. Dann geht man abends nach Hause und sagt sich frustriert: Ich habe zwar gearbeitet, aber nicht das Gefühl, mit der Arbeit zufrieden zu sein.

Und heute sind Sie zufrieden?

MARTH: Ja, weil ich das Gefühl habe, etwas Erfüllendes für mich und andere zu tun.

Was ist Ihnen zu Beginn in der Betreuung am schwersten gefallen?

MARTH: Ich habe am Anfang gemeint, dass ich mich gut abgrenzen muss, dass ich mich nicht zu tief da hineinfallen lassen darf. Dann habe ich schnell bemerkt, dass das so nicht geht.

Sie wollten sich vom Leid des Sterbenden abgrenzen?

MARTH: Ja, aber das funktioniert nicht. Wenn ich jemandem wirklich begegnen will, muss ich mich einlassen.

Wie schwer fällt es, die Grenze vom Mitgefühl hin zum Mitleid nicht zu überschreiten?

MARTH: Am Anfang war es schwierig. Da lässt man sich mitziehen und hinunterziehen. Aber es funktioniert weder das Abgrenzen noch das Mitleid. Beim Mitleid sieht man das Leid des anderen und bekommt das Gefühl, dass man etwas ändern muss. Weil man es selbst nicht aushält. Was man braucht, ist Mitgefühl. Es geht darum, dem Menschen das Gefühl zu geben, nicht allein zu sein.

Was belastet am meisten?

MARTH: Wenn jemand jung ist. Bei jungen oder gleichaltrigen Menschen ist die Identifikation einfach eine größere und ich sage mir: Das könnte jetzt ich sein.

Und wie gehen Sie damit um?

MARTH: Es geht immer um das eigene Sich-Einlassen mit dem Sterben. Ich muss mich mit meiner eigenen Endlichkeit auseinandersetzen, mit mir selber gut klarkommen, damit ich Sterbenden begegnen kann. Ich nehme das als Übung, demütig zu sein, einfach achtsam zu sein, was ich mit meinem eigenen Leben mache. Ich denke, es kann eine große Hilfe sein, sich mit dem eigenen Sterben zu befassen. Selbst wenn das niemand will.

Sie bekennen im soeben erschienenen Buch "Zeit zu sterben, Zeit zu leben", dass diese Arbeit die schönste ist, die Sie je machen durften. Warum?

MARTH: Weil ich viele Lebensbiografien erfahren darf, es eine ganz intensive Art der Begegnung ist. Man macht sich nichts mehr vor. Die Masken können fallen gelassen werden. Natürlich gibt es auch Verzweiflung. Manchmal kann man helfen, dann geht es wieder nur darum, sie auszuhalten, weil die Verzweiflung, das Leid einfach angemessen ist. Da gibt es nichts zu beschönigen, da kann man nicht sagen: Na, vielleicht wird es besser. Man kann nur sagen: Ja, es ist zum Verzweifeln, aber ich bin da.

Haben Sie schon Menschen mit einem angstfreien Tod erlebt?

MARTH: Ja, es gibt viele Menschen, die sich mit ihrem Sterben intensiv auseinandersetzen und mit sich in Frieden kommen. Natürlich gibt es die Angst vor der Frage, wie der Sterbeprozess sein wird, die Angst, zu ersticken, eine Blutung zu bekommen, wenn ein Krebs in die Speiseröhre einwachst. Und auch die letzte Grundangst vor dem wirklichen Loslassen, ohne zu wissen, was kommt, kann man wohl nicht verlieren.

Selbst Ärzte gestehen, Berührungsängste mit Sterbenden zu haben. Was läuft da schief?

MARTH: Eine hoch entwickelte Medizin sieht im Sterben und im Tod ein Versagen, einen Misserfolg und nicht einen Teil des Lebens. Es fehlt uns im Gegensatz zu Ländern wie Indien eine Kultur des Sterbens. Es sind ja jene Studien bezeichnend, die belegen, dass es in Spitälern doppelt so lang dauert, bis jemand auf das Läuten im Zimmer eines Sterbenden reagiert. Ich habe das selbst oft erlebt, dass Zimmer mit Sterbenden von Pflegepersonen und Ärzten gemieden werden.

Wie würden Sie reagieren, wenn ein Schwerkranker Sie um Hilfe beim Suizid bittet, weil er nicht mehr leben will?

MARTH: Ich würde hinterfragen, was hinter seinem Leid steht. Befürworter der aktiven Sterbehilfe sagen gerne, dass es Menschen möglich sein muss, in Würde zu sterben. Aber was ist Würde. Würde ist Bestandteil des Lebens bis zum Tod. Die Frage ist, wie die Umgebung achtet, dass die Würde gewahrt wird. Darum geht es. Es wird oft dargestellt, als ob Würde bei schwerer Krankheit nicht mehr möglich sei.

Könnten Sie sich vorstellen, als Palliativschwester in einem Land wie Holland zu arbeiten, wo aktive Sterbehilfe erlaubt ist?

MARTH: Als ich in der Geriatrie gearbeitet habe, sagten manche Menschen: "Ich falle allen zur Last, meine Angehörigen haben so viel Arbeit mit mir, der Heimplatz kostet so viel." Das führt dann dazu, dass Menschen sagen, sie wollen sterben, weil sie niemandem mehr zur Last fallen wollen. Die Gefahr wäre enorm groß, dass dieser Druck steigen würde, wenn wir eine aktive Sterbehilfe hätten. Nein, ich könnte in Holland nicht arbeiten. Das könnte ich ethisch nicht vertreten. Wir haben kein Recht, in Menschenleben einzugreifen.

Wie lange aber ist es im Zwiespalt zwischen Lebensschutz und individueller Freiheit ethisch vertretbar, einem Menschen zu sagen, er müsse sein Leid ertragen, selbst wenn er nicht mehr will?

MARTH: Darum geht es nicht, weil niemand Schmerzen ertragen muss. Man kann Leid immer lindern, das ist höchste Priorität der Palliativmedizin. Manche brechen die Chemotherapie ab, weil sie keine Lebensqualität mehr haben. Sie nehmen es in Kauf, dass der Tumor wächst, aber wollen eine bessere Lebensqualität für die geringe Zeit, die bleibt. Es geht immer darum, zu erkennen, was die Bedürfnisse eines Menschen sind.

Was würden Sie sich wünschen, was sich im Umgang mit dem Tod ändern sollte?

MARTH: Dass wir Tod, Sterben, Krankheit als andere Seite der Medaille akzeptieren. Dass wir uns mehr einlassen, was Tod und Sterben bedeutet, um die Angstbesetztheit etwas herauszunehmen.

Wie gehen Sie mit Ihrer Angst um?

MARTH: Die Grundangst kann geschwächt werden, wenn ich mich mit meinem Leben konfrontiere, mit dem Jetzt und wenn ich akzeptiere, dass es Dinge gibt, die existieren und vergehen. Meine Angst hat sich verringert, seit ich Sterbende betreue und gesehen habe, dass das Sterben auch sehr gut gelingen kann.

Wie kann Sterben gut gelingen?

MARTH: Wenn der Sterbende im Frieden geht und wenn die Angehörigen es akzeptieren können.