Ist es mutig, ohne Sicherung eine senkrechte Felswand hinaufzuklettern? Ist es mutig, sich in einem autokratischen System als regimekritischer Demonstrant einer Panzerkolonne in den Weg zu stellen? Ist es mutig, Menschen vor dem Ertrinken oder Wale vor dem Abschlachten zu retten, im Wissen, dafür eingesperrt zu werden? Ist es mutig, sich aus 38 Kilometer Höhe aus einer Hightech-Kapsel Richtung Erde fallen zu lassen? Ist es mutig, dem Chef zu widersprechen, auch wenn man eine Konfrontation riskiert? Ist ein Selbstmordattentäter mutig? Ist es mutig, Kinder in eine zerbrechende Welt zu setzen? Sie am Spielplatz auf Klettergerüste kraxeln oder später alleine auf Urlaub fahren zu lassen?

Mutig oder dumm?

Felix Baumgartner sprang aus 38 Kilometer Höhe Richtung Erde. Mutig?
Felix Baumgartner sprang aus 38 Kilometer Höhe Richtung Erde. Mutig? © APA/RED BULL STRATOS/LUKE AIKINS

Was ist Mut eigentlich? Und wie viel brauchen wir als Gesellschaft davon? Wann ist man mutig? Und was bremst einen? Was bedeutet es überhaupt, mutig zu sein? Und welche Bewertungskriterien legt man an? Die moralische Passgenauigkeit? Das hehre Handlungsmotiv? Dessen soziale Verträglichkeit?
Mut scheint gesellschaftliche Fragen aufzuwerfen. Aber ist er deshalb schon ein sozialer Wert? Wie grenzt er sich von Naivität, Größenwahn oder Dummheit ab? Braucht es als Kontrastmittel, als reziproken Gemütszustand, immer die Angst? Ja, wenn man einer Studie des israelischen Weizmann-Instituts Glauben schenkt: „Mut definiert sich als Aktion im Angesicht der Angst“, heißt es dort. Samtiger hat es einst der römische Philosoph Seneca formuliert: „Wenn die Sehnsucht größer ist als die Angst, wird der Mut geboren.“

Doping für das Selbstvertrauen

Angst als Kehrwert des Muts und "Zentralverriegelung" für ein selbstbewusstes Handeln
Angst als Kehrwert des Muts und "Zentralverriegelung" für ein selbstbewusstes Handeln © Juergen Fuchs

Und da ist er dann, der Mut. Lächelt und lockt. Lädt uns ein, in unserem Tun mehr Risiko zu nehmen. Lässt uns den Sicherheitshunger vergessen. Verführt uns zum Leichtsinn. Katapultiert uns aus der Komfortzone. Macht uns stark, sicher und groß. Mut als Doping fürs Selbstvertrauen. Das kann nicht schaden, in einer Welt, die immer komplexer, flexibler und unsicherer wird; in der es schon einigen Mut braucht, der ungeschönten Realität ins Auge zu blicken.
„Wir brauchen Mut, um neue Entwicklungen in unserem persönlichen Leben zulassen und gestalten zu können und um als Gesellschaft zukunftsfähig, innovativ und kreativ zu sein“, formuliert es Dagmar Borchers, Professorin für Angewandte Philosophie an der Universität Bremen.
Mut als gesellschaftliches Vademecum für die Reise aus dem Heute Richtung Morgen. Ins Ungewisse, das hinter dem Gewohnten blüht. In die Gefahrenzone, wo Scheitern, Krisen und Kontrollverlust drohen.
Freilich kann man sich fragen, wofür das gut sein soll. Warum etwas riskieren, wo es so viel zu verlieren gibt? Wäre es nicht besser, alles zu konservieren, wie es gestern war? Retrokult statt Reformmut.
Für eine Gesellschaft wäre das die größte Bedrohung. „Mutlosigkeit hemmt jeden Willen, etwas Neues zu versuchen, zu experimentieren, zu riskieren oder sich zu verändern“, heißt es im Abschlusspapier eines Symposiums der Salzburger Academia Superior zum Thema Mut. Wo er fehlt, gibt es keine Entwicklung, keinen Fortschritt. Denn funktionierende Gesellschaften würden sich durch eine konstante Veränderung auszeichnen. „Eine Gesellschaft, die sich nicht weiterentwickelt, stagniert dagegen nicht nur, sie resigniert und versinkt in der Bedeutungslosigkeit.“ Starker Tobak.

Lässt sich Mut antrainieren?

Aber wo ansetzen? Man dürfe Mut nicht zu groß denken, rät die Philosophin und Theologin Melanie Wolfers. „Der Mut, der uns die Tür zu unserem Leben öffnet, beginnt nicht erst bei nobelpreisverdächtigen Großtaten und weitreichenden Lebensentscheidungen, sein eigentliches Revier ist der konkrete Alltag“, mahnt sie. Ein mutiges Leben beginne im Kleinen abseits von Anpassung, Sicherheitsstreben und der „dauerhaft aktivierten Zentralverriegelung Angst“, die einen davon abhält, sich aufs Leben einzulassen.
Was also tun? Wenn man – laut Kalenderspruchpoesie – Mut schon nicht kaufen kann, kann man ihn dann vielleicht irgendwie erwerben? Lässt sich Mut antrainieren? Soll man von höheren Klippen springen? Auf steilere Berge klettern? Tiefer tauchen, schneller fahren, weiter segeln?
Das aber wäre eine Einengung des Phänomens Mut, „um eine gewisse Erlebnis- und Erfahrungsarmut zu kompensieren“, meint Wolfers Fachkollegin Borchers. Sie nennt es die außermoralische Dimension von Mut – im Gegensatz zur großen, in die Gesellschaft wirkende Variante. – Wo es um das Einstehen für persönliche Überzeugungen geht. Um das Kämpfen für eine Idee. Um das Nichtausweichen bei Konfrontation. Um das Widerspruchwagen in der Diskussion. Um das Verantwortungübernehmen trotz Risiko.

Mutig sein - haben wir keine andere Wahl?

Das heißt nicht zwingend, dass man mit allen Routinen und Gewohnheiten brechen muss. Es heißt aber, sich selbst ins Spiel zu bringen. Mitzumachen. Gesellschaft mitzugestalten, indem man sich (zu)traut, sich auf das Gegenüber einzulassen. So kann Mut durchaus als Zement eines Zusammenlebens funktionieren.
Klingt schön. Klingt idealisiert. Klingt nach Aristoteles, demnach nur ein mutiger Mensch wahrhaft glücklich werden kann. Nicht das einzige bedeutungsschwere Zitat aus dem Buch antiker Lebensweisheiten. „Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, das Geheimnis der Freiheit aber ist der Mut“, hat Perikles sinniert.
2500 Jahre später kann man das mit dem Glück und dem Mut auch als weniger liberales Biotop deuten. Durch immer komplexere Zusammenhänge sind die Folgen unserer Entscheidungen nämlich kaum noch prognostizierbar geworden. Das Risiko ist auch ohne Bungeejumping, Freeclimbing und Hedgefondsspekulationen allgegenwärtig.
Vielleicht haben wir also gar keine andere Wahl, als (endlich) mutig zu werden.