"Nein" zu sagen und unangenehme Berührungen abzuwehren, ist nicht einfach – gerade gegenüber Verwandten. Sie arbeiten mit Kindern daran, für ihre Grenzen einstehen zu lernen und sich notfalls auch Hilfe zu holen.

GÜNTHER EBENSCHWEIGER: Mein Körper gehört mir ganz allein: Jeder von uns ist ein Individuum und empfindet Dinge anders. Jede Form der Gewalt - egal, ob verbale, körperliche, seelische oder strukturelle Gewalt ist nicht zu akzeptieren und durch nichts zu rechtfertigen. Es gilt das Menschenrecht auf Unversehrtheit. Wir müssen alles tun, um diese kleinen Seelen und Körper zu schützen. Dafür braucht es Aufmerksamkeit. Sexueller Kindesmissbrauch entwickelt sich nicht von heute auf morgen - auch beim Täter. Ein Kind, das gelernt hat, dass es zu Hause nichts sagen darf oder das keinen Ansprechpartner findet, weil sich niemand um es kümmert oder wo Gewalt in der Familie vorherrscht, ist besonders gefährdet. Man sollte ihm beibringen: "Dein Umfeld hat deine Gefühle zu respektieren." Wenn also ein Kind nicht möchte, dass es auf dem Schoß eines Verwandten sitzen soll oder nicht am Kopf gestreichelt werden will, dann ist das zu akzeptieren. Das Kind hört auf seinen Körper und setzt hier eine Grenze. Stattdessen hört man dann oft "Geh sei doch nicht so, er ist doch so lieb." Das mag sein, aber das Kind muss sich nicht schlecht fühlen deshalb, und darf und soll seine Grenzen verteidigen dürfen.

Beim sexuellen Kindesmissbrauch kommen 90 Prozent aller Täter aus dem näheren Umfeld der Familie. Was können Eltern tun?

EBENSCHWEIGER: Es gilt, die Eltern dafür zu sensibilisieren, dass wir nicht nur auf die Fremden schauen, sondern auch, was in der eigenen Familie passiert. Um Kinder zu schützen, ist ganz viel Achtsamkeit nötig. Eltern sind heutzutage massiv gefordert, alles unter einen Hut zu bringen und mitunter bleibt nicht genug Zeit für die Kinder. Man sollte Kindern immer signalisieren, dass man Zeit hat, über ihre Themen zu sprechen, sonst kommen sie mit ihren Sorgen irgendwann nicht mehr. Studien zeigen, dass 30 Prozent der Kinder diese Achtsamkeit nicht mehr erleben. Solche Situationen eröffnen den Tätern dann Möglichkeiten. Neben der notwendigen Bindung zum Kind, ist es auch wichtig, dass Kinder lernen, ihre Gefühle einzuschätzen und auch mitzuteilen.

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Wie spricht man sensible Themen richtig an?

EBENSCHWEIGER: Man kann neutrale Fragen stellen: "Wie geht es dir?" mit ehrlichem Interesse, "Was ist passiert?" und "Wie lösen wir das Problem gemeinsam?". Es ist ganz wichtig, dass die Eltern gelassen auf für sie beunruhigende Informationen vom Kind reagieren und das Kind immer bei der Lösung des Problems einbeziehen, um die Selbstbestimmung nicht zu übergehen. Interaktion mit Kindern ist das wichtigste, nicht nur vor den Fernseher setzen. Ebenso ist es wichtig, dass die Eltern ihre eigenen Gefühle gegenüber den Kindern offen äußern. Denn wenn Kinder spüren, dass bei den Eltern etwas nicht stimmt, aber die Eltern sagen, es sei alles okay, führt das zu einer Ambivalenz bei den Kindern und sie verlernen, ihren eigenen Gefühlen zu trauen.

Sexualität ist natürlich immer ein schwieriges Thema.

EBENSCHWEIGER: Ja, aber wenn Eltern dieses Thema abblocken, dann haben die Kinder das Gefühl, sie können mit ihren Eltern nicht darüber reden und sind dann in ihrem eigenen Schweigen gefangen. Kinder brauchen ein Vertrauen in die Eltern, dass diese nicht überreagieren. Denn wenn ich nicht weiß, was die mit meinem Thema machen - zum Beispiel gleich jemand anderem davon erzählen oder sofort Maßnahmen zur Lösung setzen - dann erzähle ich es lieber nicht. Man möchte sich zuerst einmal anvertrauen und Trost finden und nicht, dass es nach hinten losgeht.

Täter versuchen häufig das Kind einzuschüchtern und wollen, dass es das "Geheimnis" bewahrt. Warum ist es kein "Petzen", wenn ich schlechte Geheimnisse Erwachsenen anvertraue?

EBENSCHWEIGER: Kinder kennen zwar den Begriff Geheimnis, aber nicht, was genau dahintersteckt. Bei Kindern und Jugendlichen herrscht die irrige Meinung vor, einen Erwachsenen einzubeziehen, ist gleich petzen. Ich erkläre ihnen immer, dass es überall dort, wo Herz oder Seele eines Menschen verletzt wird, nicht petzen ist. Wenn ich zur Lehrerin gehe und sage: "Der hat die Hausübung nicht gemacht", ist das klassisches Petzen. Wenn aber jemand verletzt oder beleidigt wurde oder wenn etwas kaputt gemacht worden ist, ist es nicht petzen, sondern da hat jeder das Recht, sich Hilfe zu holen. Auch in der Familie. Ein sexuell misshandeltes Kind muss durchschnittlich neunmal um Hilfe bitten, bis es gehört wird. Wir schaffen es psychisch nicht, uns ohnmächtig zu fühlen. Also gibt man sich lieber selbst die Schuld, wenn so etwas passiert. Um aus der Ohnmacht herauszukommen, muss ein Kind wissen, wo es Hilfe finden kann.