Jetzt ist das Thema Schule einmal vom Tisch, zumindest für ein paar Wochen. Am Freitag werden die letzten Zeugnisse verteilt, Lehrer und Schüler in die Sommerpause verabschiedet und im Herbst geht es dann mit frischem Elan wieder an den Start. Im selben Modus.
Nach diesem Sommer wird wohl kaum jemand mehr über den Vorfall reden, der im heurigen Mai an der HTL in Wien-Ottakring passiert ist, über das Video, das zeigt, wie ein paar Jugendliche einen Lehrer umringen, ihn bedrängen, wie die Lage eskaliert, der Lehrer dem Schüler ins Gesicht spuckt, bevor ihn dieser gegen die Tafel stößt. Vier Schüler wurden noch vor Schulschluss vom Unterricht ausgeschlossen, der Lehrer wird an dieser Schule nicht mehr unterrichten. Erledigt ist für Ärztin und Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger damit das Thema keineswegs. Ganz im Gegenteil: „Vorfälle wie diese zeigen auf, dass wir einen Systemfehler haben. Das ist weder ein Einzelfall, noch sind das Schüler mit Migrationshintergrund oder aus sozial schwachen Familien, es hat auch nichts mit mangelndem Respekt zu tun“, betont sie.

Hohe Unzufriedenheit

Was die Erziehungsexpertin stattdessen wahrnimmt: „Der Umgangston hat sich massiv verschärft, sowohl unter den Kindern als auch zwischen Pädagogen, Kindern und Eltern. Die Schule ist kein Ort der Freude.“ Das zeige sich auch daran, dass Schulanfänger der Institution mit einer positiven Einstellung begegnen und Eltern auch viel dafür tun, die Freude an der Schule zu wecken. „Unter den älteren Kindern findest du dann aber kaum mehr jemanden, der noch diese Freude in sich trägt“, sagt Leibovici-Mühlberger. Wie hoch die Unzufriedenheit mit dem System Schule ist, macht sie aber auch daran fest, „dass Privatschulen wie die Schwammerln aus dem Boden schießen, und an der Bereitschaft vieler Eltern, Schulgeld zu zahlen“.

Die Ursache dafür ortet die Psychotherapeutin in einer Gesellschaft, die sich verändert habe. Und in einem Schulsystem, das rückwärtsgewandt sei, ein System, das sich auf die neuen Herausforderungen nicht vorbereitet habe, Pädagogen im Stich lässt und Kinder in ihren Bedürfnissen nicht wahrnehme. „Früher war Schule eine schwache Halbtagsveranstaltung mit einem klaren Akademisierungsauftrag, für die Werte- und Haltungsvermittlung war das Elternhaus zuständig“, sagt Leibovici-Mühlberger, „heute haben wir ein anderes Gesellschaftsmodell, eines, das beide Eltern in die Arbeitswelt verhaftet. Wir sind mit der Tatsache konfrontiert, dass die Eltern die psychosozialen Aufgaben nur noch marginal leisten können, in der schmalen Sichel am Abend und am Wochenende, sofern sie nicht zu müde sind.“

Soziales Lernen

Hinzu kommt, dass viele Kinder ohne Geschwister aufwachsen und erst in den Institutionen den sozialen Kodex, den Umgang in der Gruppe und die Rangdynamik, lernen. „Doch dafür werden die Pädagogen nicht ausgebildet. Stattdessen sitzen sie in einem löchrigen Boot mit 25 Schülern, die schreien und die sie retten müssen“, formuliert es die Psychotherapeutin.
Dass in keinem anderen Land so viel gemobbt wird wie bei uns, belegt auch der letzte OECD-Report „Skills for Social Progress: The Power of Social and Emotional Skills“ – eine Untersuchung, die alle vier Jahre durchgeführt wird. Demnach hat Österreich im Vergleich von 27 Ländern die höchste „Bullying“-Rate. Bullying umschreibt das Phänomen, dass ein Einzelner von einem oder mehreren in einer Gruppe schikaniert wird. Wie sich das anfühlt, weiß einer von fünf Buben. Insgesamt sind 21 Prozent der österreichischen Schüler davon betroffen. Dieser Anteil ist doppelt so groß wie im OECD-Schnitt, der bei elf Prozent liegt, und fünfmal größer als in Schweden, wo vier Prozent der Schüler Opfer von Mobbing sind. Leibovici-Mühlberger sieht das auch als Folge eines Schulsystems, „das Kinder leiden lässt und unter Druck setzt“.

Paradigmenwechsel

Schuld daran seien nicht die Pädagogen, „diese Generalisierungen sind fehl am Platz. Was uns fehlt, ist eine klare und verbindliche Linie.“ Wobei Härte und Isolation keine adäquaten Methoden seien, um das Gewaltproblem zu lösen: „Die Time-out-Klassen können nur eine Akutmaßnahme sein“, betont die Psychotherapeutin. Die Lösung könne nur ein „Schulterschluss sein zwischen guten Pädagogen, die es verstehen, mit ihren Schülern eine Beziehungsebene zu entwickeln, die soziales und akademisches Lernen fördern, und engagierten Eltern, die sich nicht als die besseren Pädagogen verstehen. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel auf der strukturellen Ebene. Wir brauchen eine Kommunikation des Miteinanders und an bestimmten Standorten multiprofessionelle Teams, die Lehrer unterstützen. Wir brauchen einen Lehrplan, der Kinder fit für ihre Zukunft macht und sich an ihren Interessen orientiert. Wir brauchen eine Schule, die gute Pädagogen sichtbar macht, damit sich schlechte Pädagogen nicht halten können.“ Was wir nicht brauchen? „Im Herbst dort weitermachen, wo wir vor den Ferien aufgehört haben.“