Ab welchem Alter zeigen sich Begabungen? Worauf soll man als Eltern achten?
Claudia Resch: Ich würde am Anfang eher von Stärken sprechen als von Begabungen. Das kann man schon ab drei oder vier Jahren sehen. Wenn jemand sehr gut im Klettern ist oder im musikalischen Bereich, wenn ein Kind sehr schnell ein Musikstück spielen kann. Dazu braucht man nichts speziell zu forcieren, man schaut einfach, wo ein Kind mit seinen Interessen hingeht. Sie machen dann das, was sie gut können, auch gern. Wenn sie klein sind, sollte man einfach ein breitgestreutes Angebot machen und das, was die Kinder gerne machen, unterstützen.

Wie werden aus Stärken Begabungen?
Begabung ist viel mehr als nur ein hoher IQ: Um die richtige Begabung zu entwickeln, braucht es das Potenzial zur Leistung, hohe kognitive Fähigkeiten, Motivation, Selbstbewusstsein und ein unterstützendes Lernumfeld seitens Familie oder Schule. Alle diese Faktoren nehmen darauf Einfluss, ob sich eine Begabung entwickelt oder nicht. Wenn ein sprachlich gutes Kind in einer Umwelt aufwächst, wo niemand viel spricht, vorliest etc., wird seine Begabung vermutlich nie richtig herauskommen.

Sie sagen "Talente zu entwickeln ist ein Grundbedürfnis jedes Kindes". Warum?
Wenn man merkt, dass man gut in etwas ist, stärkt das das Selbstbewusstsein. Etwas gut zu können und gefordert zu werden, gibt einem Leben Sinn. Das Sinnerleben ist für das Glücksempfinden unheimlich wichtig. Insofern ist das Fördern schon wichtig.

Gibt es Merkmale, die auf besondere Begabungen hinweisen?
Hinweise könnten sein: flexibler Umgang mit gelerntem Wissen, unterschiedliche Wissensbereiche verbinden zu können, Durchschauen von Zusammenhängen (logisches Denken), vielseitige Interessen und hohes Detailwissen, schnelles Lernen, großer Wortschatz und kritisches Denken.

Wie sinnvoll sind Intelligenztests?
IQ-Tests sehen wir kritisch, weil es oft nur eine Jagd nach der Zahl ist. Zwischen IQ 122 und 134 wird man keinen Unterschied merken. Alle anderen Merkmale, die für die Begabungsentwicklung so wichtig sind, lässt man damit ganz außer acht, wie zum Beispiel Motivation. Die ist ausschlaggebender für einen Erfolg als Intelligenz. Wenn man merkt, dass ein Kind in etwas gut ist, sollte man es auf Verdacht hin fördern. Davon kann es nur profitieren. Um zu wissen, wie wichtig und wirkungsvoll Förderung ist, muss man sich nur folgendes wissenschaftliche Schätzung ansehen: Wenn man von einem durchschnittlichen IQ von 100 ausgeht, kann ohne Förderung ein IQ von 85 herauskommen, mit Förderung ein IQ von 115. Das war früher der Unterschied zwischen Sonderschule und Gymnasium. Begabung entwickelt sich also nicht von alleine.

Was können Eltern für die Begabungsentwicklung noch tun?
Gewisse Metakompetenzen zu fördern ist letzten Endes wichtiger als das rein Fachliche: Frustrationstoleranz, Leistungsbereitschaft, Stressresistenz und Selbstbewusstsein in einem vernünftigen Maß. Dass man an einer Sache dranbleiben muss und nicht gleich aufgibt, dass man nicht alles sofort kann. Und dem Kind beizubringen, einschätzen zu lernen, worauf seine Erfolge und Misserfolge zurückzuführen sind. Ist es Begabung, ist es Anstrengungsbereitschaft, ist es Glück? Es gibt ja alle möglichen Faktoren, die zum Beispiel zu einer Schularbeitennote führen können. Und es ist ganz wichtig herauszufinden, woran es liegt. Wenn man immer nur sagt: "Glück gehabt" wird es möglicher Weise nicht studieren. Man weiß, dass Mädchen gute Noten in naturwissenschaftlichen Fächern immer eher auf Anstrengungsbereitschaft oder Glück zurückführen, was dazu führt, dass sie weniger oft diese Fächer studieren. Wenn man immer nur gute Noten hat, weil man so fleißig war, dann fühlt man sich nicht gut genug. Buben sehen den Grund für gute Noten eher bei Ihrem Können und schlechte Noten, weil sie Pech gehabt haben.

Also montags Geige, dienstags Turnen, mittwochs Schach …?
Das ist nicht das, was man unter Begabtenförderung versteht. Jedes Kind braucht Zeit für kreatives Spiel und Langeweile. Nur aus der Freizeit entsteht kreatives Potenzial. Bei den Dingen, mit denen es sich da beschäftigt, kann man auch Stärken entdecken.

Wenn nun Eltern nicht viel Zeit haben, sich um ein Kind ganz speziell zu kümmern oder ihnen auch das Wissen oder das Geld fehlt. Wie kann man trotzdem fördern?
Es stimmt, dass nicht jeder sich Kurse leisten kann. Aber in die Bibliothek zu gehen, kostet nichts, mit dem Kind reden und aufmerksam hinzusehen, kostet nichts. Gerade im jungen Alter von null bis sechs Jahren sind die wichtigsten Fördermaßnahmen, mit dem Kind reden, ihm vorlesen, mit ihm singen, mit ihm tanzen. Das kostet Energie und es ist nicht immer einfach, wenn man nach acht Stunden Arbeit nach Hause kommt. Viele dieser Dinge werden vom Kindergarten abgedeckt, aber natürlich braucht man ein gewisses Engagement. Und dann gibt es noch Zugänge, die Begabung sogar behindern: "Leg doch mal das blöde Buch weg, immer nur lesen ist ja auch nichts." oder "Du fängst jetzt eine Lehre an und bringst einmal ein Geld nach Hause."

Sehen sie auch die Lehrer in der Verantwortung?
Was wir immer hören, ist, dass man den Begabten nicht helfen muss, weil die kommen eh von selbst weiter. Nein, Begabte helfen sich nicht selbst. Wenn es die Eltern nicht tun, haben auch Lehrer die Verantwortung, das Kind zu beobachten, zu ermutigen, in einem Bereich, wo es gut ist, weiter zu machen. Man weiß, dass ein guter Lehrer als Mentor ein schlechtes Elternhaus oder zehn andere schlechte Lehrer ausbügeln kann. Wenn es also nur einen Lehrer gibt, der dem Kind die Bestätigung gibt "in diesem Bereich bist du gut", "ich schätze das", hilft das ganz viel. Bei Kindern, wo Eltern nicht aufgeschlossen für Förderung sind, sollte es den Lehrern ein Anliegen sein, das Kind zu fördern. Angebote sollen in der Klasse nach verschiedenen Leistungslevels gemacht werden, Stichwort "differenzierter Unterricht": Projekte machen, wo Kinder selbstständig arbeiten können, Stationenunterricht, etc.

Führen wir hier nicht eine Elitendiskussion?
Begabungsförderung ist kein Randphänomen und betrifft daher alle. Es gibt tatsächlich 15 bis 20 Prozent in jedem Jahrgang, die ein Potenzial zu sehr hoher Leistung im schulischen Bereich haben, wenn die Lernbedingungen passen. Das betrifft also über 200.000 Schüler jedes Jahr in Österreich. In Spezialbereichen noch mehr. Daraus leitet sich ein klarer Auftrag an Schule, Familie und Gesellschaft ab. Es wird so oft gesagt, wir brauchen die "Besten der Besten". Die entwickeln sich aber nicht von selbst. In Oberösterreich gibt es seit Jahren ausgeprägte Begabtenförderung und sie schneiden jedes Jahr bei den Bildungstests am besten ab. In der Lehrerschaft muss sich ein Bewusstsein entwickeln, dass man für die Begabten auch etwas tun muss. Begabte laufen eben nicht von alleine mit und es wird nie eine exzellente Leistung daraus. Laut Gesetz hat jedes Kind das Recht, seinen Anlagen und Fähigkeiten entsprechend gefördert zu werden.

Das wird umso mehr schlagend, wenn man wirtschaftlich argumentiert: Österreich hat keine natürlichen Bodenschätze mehr. Wenn man dieses Land voranbringen will, dann muss man auf die Entwicklung von kognitiven Leistungen abzielen. Will ich erfolgsversprechende Start-Ups haben, muss man im oberen Bildungssegment etwas tun. Es wird immer gesagt, unsere Pisa-Ergebnisse seien so schlecht. Im Durchschnitt sind wir also schlecht. Der Durchschnitt ergibt sich aber aus einer großen Gruppe von schlechten Schülern und einer kleinen Gruppe von sehr guten Schülern. Wenn man mehr Spitzenschüler hätte, würde das den Durchschnitt auch heben. Warum schaut man also nur auf die Schlechten und die Guten müssen sich fast dafür rechtfertigen, dass sie gut sind?