Jeder, der Geschwister hat, kennt es: Über niemanden kann man sich so aufregen. Man kann sich aber auch selten mit jemandem so freuen oder in Erinnerungen schwelgen wie mit Bruder oder Schwester. Aus der Sicht des Fachmanns: Warum ist das so?

JÜRG FRICK: Maßgeblich ist, dass man mit Geschwistern schon sehr früh aufwächst. Man hat sie, seit man auf der Welt ist oder nach einigen Jahren. Geschwister sind enge Bezugspersonen, die einen gut kennen und mit denen man auch vielfältige Erfahrungen macht. Man lernt heftige Gefühle nicht nur kennen, man lernt auch früh den Umgang damit. Anders als bei der Beziehung zu den Eltern handelt es sich bei der Geschwisterbeziehung um eine horizontale. Das bedeutet, dass sie zwischen eher gleichartigen und mehr gleichaltrigen Personen stattfindet. Aber, und das ist auch nicht unwichtig, es ist eine Beziehung, die man nicht selbst wählt.

Wirken sich Geschwistererfahrungen auf unser Verhalten als Erwachsene aus?

FRICK: Ja, wenn der Altersunterschied nicht zu groß ist und man einigermaßen zusammen aufwächst. Man erlernt Einstellungen in der Interaktion. Man eignet sich Gefühlserfahrungen, Streitmuster, Vorbilder und Muster von Abgrenzung an. Man lernt auch, was man toll und nicht toll findet. Das sind Erfahrungen, die ein Stück weit von dieser Geschwistererfahrung - im Positiven wie im Negativen - geprägt oder beeinflusst sind. Man erlebt sie aber meistens unbewusst.

Haben Geschwister auch Einfluss auf unsere Partner- und Berufswahl?

FRICK: Wenn zum Beispiel der Bruder ehrgeizig ist, ist die Frage, wie man das erlebt. Wenn man das bewundert, kann es ein Antrieb sein. Es kann aber auch sein, dass man sich distanziert. Dass man sich denkt: So blöd wie der will ich nicht sein. In einer Studie aus Frankreich hat man aber festgestellt, dass Kinder, die ein behindertes Geschwisterchen haben, überdurchschnittlich häufig einen bestimmten Beruf in der Ergotherapie und Logopädie wählten. Sie entwickeln mehr Sensibilität für diese Menschen. Ihre Geschwister bringen sie quasi später in diesen Beruf.

Ganz viel Liebe
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Der Älteste, das Nesthäkchen, das Sandwichkind, gibt es diese Geschwisterrollen wirklich?

FRICK: Der Geburtsrang oder der Altersabstand sind zwei Faktoren von vielen. Aber wenn man eine große Zahl von Ältesten und Jüngsten untersucht, dann gibt es Tendenzen, die bei gewissen Geschwisterpositionen häufiger vorkommen. Es ist naheliegend, dass Ältere eher in die Rolle gedrängt werden, Verantwortung für die Jüngeren zu übernehmen. Wie dann das älteste Kind mit dieser Verantwortungszuschreibung umgeht, das ist eine andere Frage.

Und die Sandwichkinder?

FRICK: Bei ihnen ist das auch der Fall. Eine Frau meinte, dass sie das mittlere Kind war und sie das als beste Position für sich empfunden hat. Sie hatte etwas zum Dominieren nach unten und etwas zum Spielen nach oben. Andere sagen, dass das Sandwich die Position ist, wo man zwischen oben und unten zusammengedrückt wird. Viele lernen aber auch Rollenfertigkeiten - nachgeben und sich durchsetzen.

Inwiefern kann man denn als Elternteil das Zusammenleben von Geschwistern positiv gestalten?

FRICK: Der Haupteinfluss der Eltern sollte darin bestehen, dass sie versuchen, ihre Kinder fair zu behandeln. Hierbei geht es nicht darum, die Kinder gleich zu behandeln. Kinder brauchen nicht dasselbe. Ein Dreijähriger und ein 15-Jähriger wollen nicht auf dieselbe Weise geküsst werden. Das ist etwas, das viele Eltern zwar versuchen, es gelingt ihnen aber häufig nicht, weil die Kinder in ihnen etwas auslösen. Wenn ihnen zum Beispiel ein Kind aus den unterschiedlichsten Gründen nähersteht. In Befragungen sagen 60-Jährige, dass diese Ungleichbehandlung als Kind für sie ein großes Problem war.

Überspitzt formuliert: Wieso wird man seine Geschwister nicht los, selbst wenn man nichts mit ihnen zu tun haben will?

FRICK: Letztlich ist die Geschwisterbeziehung eine Beziehung, die man nicht wegschieben oder abschließen kann, weil mit ihr eine Vielzahl von Erfahrungen verbunden ist: Nähe, Distanz, Eifersucht, Neid, Bewunderung. Das sind so tiefe Erfahrungen, die einfach in einem Menschen nachwirken, weil frühe Erfahrungen einfach sehr viel tiefer gehen.

Wo liegt denn eigentlich der Unterschied zwischen Geschwistern und wirklich guten Freunden?

FRICK: Freundschaften kann man auflösen. Die Geschwisterbeziehung kann man zwar minimieren, aber letztlich nicht kappen. Das hat auch organisatorische Gründe: Wenn die Eltern alt sind, muss man sich einigen, wer und wie man sich um sie kümmert. Wenn die Eltern sterben, geht es um das Erbe. Die Beziehung zu Bruder und Schwester ist eine unabänderliche. Sie kann eine unglaubliche Ressource, aber auch eine enorme Belastung sein. Mit Geschwistern macht man Spielerfahrungen, man streitet ums Spielzeug und darum, wer bei den Eltern besser ankommt. Das sind Erfahrungen, die man mit Freunden nicht macht. Da streitet man um anderes.

Agieren wir als Eltern denn anders, wenn wir mit Geschwistern aufgewachsen sind?

FRICK: Die Geschwistererfahrung spielt immer eine Rolle, die Frage ist nur, welche. Es kommt darauf an, wie man das Geschwisterleben erlebt hat. Manche bekommen so viele Kinder, wie sie selbst in der Familie hatten, weil sie das toll gefunden haben. Andere wollen nie mehr eine Großfamilie, weil sie darunter gelitten haben.