Wo Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Meinungen zusammen leben, scheint es fast unmöglich, nicht zu streiten.
JULIA MARKTL: Ja, und das ist gut und wichtig, denn sonst würden sich die Menschen nicht weiter entwickeln. Aber die Gesellschaft ist sich nicht sicher, wie man richtig streiten kann, Streit ist negativ besetzt.


Wie streitet man also richtig?
Immer auf Augenhöhe und dem anderen gegenüber wertschätzend bleiben. So viele Ich-Botschaften wie möglich senden, also nicht dem Gegenüber die Schuld geben: "Du hast das falsch gemacht" "Wegen dir ...". Stattdessen die eigenen Gefühle ausdrücken: "Ich bin wütend." "Ich verstehe das gerade nicht ..." Wichtig ist auch, zu versuchen, die Beweggründe des anderen zu verstehen. Man muss nicht die gleiche Meinung haben, aber sich ein wenig einfühlen. Und dann gemeinsam eine Lösung finden.


Und wenn man schon zu verärgert ist, um noch rational auf den anderen eingehen zu können?
Es ist wichtig, sich schon außerhalb einer Konfliktsituation mit dem Thema auseinanderzusetzen. Wie streiten wir? Werde ich schnell laut und ist der andere jemand, der sich erst einmal zurückzieht? Gegen die Wut selbst kann man nichts tun, da spielen viele Hormone mit. Es ist also gut zu wissen, dass das sein darf, dass man aber erst dann gut miteinander reden kann, wenn die erste Wut verraucht ist. Dafür empfiehlt es sich, Methoden zu finden, wie man sein Stresshormon abbauen kann, ohne den anderen anzugreifen. Manchen hilft es, einmal laut beim Fenster hinauszubrüllen oder herumzuspringen, in einen Polster zu boxen etc.

© Träumerherz Fotografie


Wenn Eltern streiten, ist es häufig so, dass Kinder sich fürchten: Haben sie sich nicht mehr lieb? Sollte man also nicht vor Kindern streiten?
Es ist ganz wichtig, vor den Kindern zu streiten. Denn Kinder bekommen ohnehin mit, dass etwas nicht stimmt und das führt zu Verunsicherung. Und woher sollen Kinder lernen zu streiten, wenn sie es bei ihren Eltern nicht sehen? Viele Paare beginnen erst ihr Streitverhalten zu reflektieren, wenn Kinder kommen, denn sie wollen ein gutes Vorbild sein. Laut werden und Türenknallen will man plötzlich nicht mehr. Hat man eine gute Konfliktkultur entwickelt, ist es auch nicht problematisch, vor den Kindern zu streiten.
Aber dazu muss man sich damit auseinandersetzen und das üben. Wichtig ist auch zu unterscheiden, worum es im Streit geht. Um alltägliche Kleinigkeiten kann man recht unproblematisch streiten. Ist es aber etwas Tiefgreifendes, gibt es sicher Themen, wo Kinder nicht dabei sein müssen. Wichtig ist auf jeden Fall, dass Kinder immer wissen, dass sie nicht schuld sind. Und dass man ihnen vermittelt, dass Streit nichts Schlechtes ist, sondern dass am Ende eine Lösung und Versöhnung stehen können.


In vielen Familien ist nun vor allem der Streit zwischen den Geschwistern ein Dauerthema.
Geschwisterstreit ist vollkommen normal. Sie verbringen so viel Zeit miteinander wie mit sonst niemandem, da ist das Konfliktpotenzial einfach hoch. Außerdem haben sie oft sehr ähnliche Bedürfnisse, die auch noch von denselben Personen erfüllt werden sollen, also gibt es eine gewisse Konkurrenz. Jeder in der Familie ist ein Individuum und kämpft darum, seine Rolle zu finden. Die Kernfamilie ist heutzutage sehr klein, das ist sehr anstrengend, weil wenige Personen viel mehr Aufgaben haben.


Wie kann man einen Geschwisterstreit gut begleiten?
Das Wichtigste ist, sich zu überlegen, wie man eine Streitszene betritt. Rauscht man ins Zimmer und steigt gleich in den Streit ein? „Was ist denn jetzt schon wieder? Nicht einmal fünf Minuten kann ich euch allein lassen!“ Man könnte auch seine elterliche Autorität ausleben. Ich aber empfehle eher, ruhig in die Situation zu gehen und dann einmal zu beschreiben, was man gerade sieht: „Ah, ihr wollt beide mit demselben Spielzeug spielen?“ Zuerst sollen sich die Kinder einmal beruhigen können. Dann hilft man ihnen, ihre Gefühle zu benennen. Wichtig ist, sich beide Seiten anzuhören. Dann kann man ihnen Verständnis vermitteln und gemeinsam mit ihnen eine Lösung suchen.


Das Thema Schuld ist aus unserer Kindheit stark in uns verankert. Viele wurden bestraft und beschämt.
Wir bringen aus unserer Ursprungsfamilie viel mit. Nun liegt es an uns, daran zu arbeiten, dass es für die eigenen Kinder besser wird. Passiert es uns trotzdem manchmal, dass wir die Schuld verteilen, kann man nachher dem Kind sagen, dass man das nicht gut gemacht hat. Beim Schuldthema hilft es auch, etwas Nachsicht walten zu lassen: Wir sind eine Familie und nicht vor Gericht, da muss nicht immer die Schuldfrage geklärt werden.


Was tun, wenn man trotz aller guten Vorsätze laut wird dem Kind gegenüber?
Das passiert jedem einmal. Es ist wichtig, auch hier nachher offen darüber zu sprechen. Selbst wenn man schimpft, sollte man immer versuchen, nicht das Kind als Person anzugreifen. Kinder möchten kooperieren und ärgern einen nicht absichtlich. Eigentlich ist man also nicht vom Kind genervt, sondern davon, was passiert ist. Wenn man Kinder beschimpft, statt über die Situation zu sprechen, übt man psychische Gewalt aus, die auch im Kindergehirn ihre Spuren hinterlässt - ähnlich physischer Gewalt.