Mehrere Nächte in Folge auswärts schlafen, ausnahmsweise einmal ohne die Eltern, dafür unter vielen Gleichaltrigen. Jede Menge Zeit in der Natur, gemeinsam spielen, Spaß haben, den Sommer und die freie Zeit genießen. So ein Ferienlager klingt nach dem perfekten Abenteuer für Kinder, oder? Seltsamerweise nimmt die Nachfrage nach den traditionellen mehrwöchigen Kinderferienlagern eher ab. So nimmt es jedenfalls Michael Winterhoff, Kinder- und Jugendpsychiater aus Bonn und Bestsellerautor von Eltern-Ratgeberbüchern, wahr. Er meint: „Es gibt tatsächlich immer weniger Eltern, die so ein Ferienlager überhaupt in Erwägung ziehen. Viele Eltern leben heute in einer Symbiose mit ihren Kindern und wollen sie gar nicht hergeben.“

Und wenn, dann hätten die Eltern beim Abschied meist das viel größere Problem mit dieser vorübergehenden Trennung als die Kinder. Diese Beobachtung machte der Experte, der selbst über viele Jahre als Betreuer in Ferienlagern dabei war, immer wieder. Heute sind es auch in der Regel die Eltern, die lieber kein Handyverbot während so einer Trennung wollen. „Das Handy ist dann sozusagen der verlängerte Arm zum Kind“, so beschreibt es Winterhoff.

Michael Winterhoff: Die Wiederentdeckung der Kindheit. Wie wir unsere Kinder glücklich und lebenstüchtig machen. Gütersloher Verlagshaus, 18,50 Euro
Michael Winterhoff: Die Wiederentdeckung der Kindheit. Wie wir unsere Kinder glücklich und lebenstüchtig machen. Gütersloher Verlagshaus, 18,50 Euro © Gütersloher Verlagshaus

Heimweh?

Argumentiert wird oft mit Heimweh des Kindes. Allerdings: „Kinder ab neun, zehn Jahren sind allgemein definitiv reif für ein Ferienlager“, so der Experte. Wenn ein Kind in diesem und über dieses Alter hinaus sehr großes Heimweh entwickle, dann sei das eher ein Problem, das Eltern mit ihrem Verhalten provoziert hätten: „Da wurde offenbar schon lange im Übermaß auf die Beziehung zum Kind fokussiert. Leider nimmt man dem Kind genau damit Wachstumspotenzial.“

Was also tun bei schmerzlichen Heimwehattacken? Sie geflissentlich ignorieren? Der Kinderpsychiater rät zum Augenmaß. „Wenn ich mein Kind auf ein Ferienlager mitschicke, muss ich natürlich sicher sein, dass die Betreuer Verantwortung übernehmen. Das heißt: Wenn's ganz schlimm wird, müssen die Eltern informiert werden und die Sache muss nötigenfalls sogar abgebrochen werden. Aber bitte nicht beim ersten kleinsten Anlass! Viele Kinder sind die Bewegung in der Natur heutzutage nicht mehr gewöhnt und bekommen von kurzen Wanderungen schon Bein- und andere Schmerzen. Dann wollen sie natürlich gleich wieder heim. In so einem Fall geht's dann schon darum, auch einmal etwas durchzuhalten.“

Ich will nicht in den Wald!

Das mit dem Durchhalten wird in vielen Familien heutzutage kaum mehr praktiziert, meint Winterhoff. „Am Wochenende in den Wald oder in die Natur zu gehen, das scheitert meistens am Protest des Kindes. Und dem wird üblicherweise von den Erwachsenen immer gleich nachgegeben.“ So würden Eltern und Kinder aber die Chance verpassen, ihren Kopf wieder freizubekommen von der Reizüberflutung, der wir durch die Digitalisierung ständig ausgesetzt sind. Und die belaste auch die Eltern-Kind-Beziehung massiv, weil Verschnaufpausen fehlen.

Eltern werden heute durchgehend überfrachtet mit Meldungen und News aus aller Welt. Sie reagieren nur noch, sind nicht mehr bei sich selbst. Ergo: „Wenn ich mich selbst nicht mehr spüre, kann ich auch für das Kind kein Gespür mehr haben. Diese ständige Angespanntheit überträgt sich unweigerlich“, sagt Winterhoff. Vor 25 bis 30 Jahren wär das noch kein Thema gewesen, „wir wurden nicht so überrollt von äußerlichen Reizen und fanden leichter die Zeit, uns aktiv um unsere Regeneration zu kümmern“. Heute müsse man sich diese Gegenpole - Waldspaziergang, Meditation, Kirchenbesuch, Yoga oder was immer man persönlich vorzieht - bewusst einräumen. Nicht zuletzt deshalb seien Auszeiten in der Natur für Erwachsene wie für Kinder überlebensnotwendig für eine gesunde Beziehungsbasis.

Starkes Argument

Was wiederum ein starkes Argument für den Besuch eines Ferienlagers ist. „Dort gibt es Programm von morgens bis abends, abseits von Bildschirmen, elektronischen Geräten und virtuellen Welten. Viele Kinder, deren Eltern mit ihnen nicht mehr rausgehen, lernen in diesen Wochen erstmals den Wald kennen“, weiß Michael Winterhoff. Und auch die in vielen Familien vernachlässigte Kultur des gemeinsamen Spielens sei eine Erfahrung, die viele Kinder erst so machen könnten.
Insofern sei so eine Ferienauszeit absolut positiv für die Entwicklungsförderung von Kindern ab dem neunten oder zehnten Lebensjahr.

Weg von Mutter und Vater, dafür betreut von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, die ja einen ganz anderen Umgang mit Kindern pflegen - das sei mit Sicherheit eine außergewöhnliche Zeit. Winterhoff: „Wenn so ein Ferienlager gut vorbereitet ist, gibt es klare Strukturen und ein schönes Erleben von Gemeinschaft unter Gleichaltrigen. Und das ist gerade in unseren Zeiten, in denen Kinder oft überbehütet aufwachsen, eine tolle Erfahrung.