Was einen guten Märchenerzähler ausmacht, müsste bei Frederik Mellak eigentlich wie aus Pistole geschossen kommen. Schließlich ist der Steirer seit 30 Jahren professioneller Märchenerzähler. Aber er weiß um die Gefahr, mit diesem Beruf schnell einmal als netter Märchenonkel für Kinder belächelt zu werden. Und ihm ist bewusst, dass mittlerweile oft sogar schon Kinder das Märchen als Lügerei abtun. Dabei ist das ein grobes Missverständnis einer Kunst, von der die Menschen gerade in Krisenzeiten profitieren könnten. „Märchen erzählen von der Innenseite des Lebens, und dort gelten andere Gesetze als in der materiellen, äußeren Welt“, sagt Mellak, der sich schon als Jugendlicher im genauen Hinschauen auf die Dinge und das Leben geübt hat, wie er sagt.
Mellaks persönliche Entdeckungsreise in eigene Seelenlandschaften begann mit Fotografie und dem Schreiben von Gedichten. Nach einem abgeschlossenen Germanistik-Studium suchte er nach Wegen, Sprachkunstwerke zum Leben zu erwecken. „Die innere Welt, die Fantasie, kennt nicht die Grenzen der äußeren Welt. Da sprechen Bäume, man begegnet Riesen und Ungeheuern, Tiere sind weise Ratgeber“, erzählt Mellak. „Wer in seine innere Welt eintaucht, dort, wo auch die Märchen zu Hause sind, erlebt starke Gefühle, besteht Abenteuer und bekommt die Gelegenheit, seelisch zu reifen. Märchen erzählen von inneren Welten mit Bildern aus der äußeren Welt.

Märchen erzählen ist die Leidenschaft und der Beruf von Frederik Mellak
Märchen erzählen ist die Leidenschaft und der Beruf von Frederik Mellak © Mellak

Mellaks frohe Botschaft gerade für Krisenzeiten: „Wer in der äußeren Welt im Moment machtlos ist, kann sich in die innere Welt begeben und dort seine Persönlichkeit entfalten. Märchen bauen die Seele auf und nähren die Zuversicht. Seelisch gestärkte, zuversichtliche Menschen wiederum können ihre eigene äußere Lebenswelt sehr wohl verändern.“
Wie aber erweckt man Sprachkunstwerke, Geschichten und Märchen, zum Leben? Ist das etwas für jeden Mann und jede Frau? „Ja!“, antwortet Mellak. Erzählen sei etwas, das im Prinzip jede und jeder könne und auch regelmäßig tue. Mellak: „Wenn wir einen spannenden Film gesehen oder etwas Besonderes erlebt haben und dann einer Freundin, einem Freund begegnen, sprudeln die Worte nur so.“

Wenn man ein Märchen liest und es erzählen möchte, dann gibt es, wie Mellak betont, ein paar Grundtechniken, wie das vorerst im kleinen Kreis mit wenig Aufwand gelingen kann. „Das kann jeder lernen“, sagt der Experte, der auch Erzählkurse für Erwachsene anbietet.

„Zuerst ist es wichtig, die innere Bilderwelt ernst zu nehmen, sich von ihr berühren zu lassen. Ich könnte ein Bild oder eine Figur aus dem Märchen malen und mich fragen: Wofür steht dieses Bild? Was sagt mir persönlich dieses Symbol? Das kann eine sehr spannende Beschäftigung sein.“ Eine weitere hilfreiche Technik: „Ich zeichne auf einem großen Blatt Papier die Bilder und Szenen des Märchens skizzenhaft hintereinander auf, wie einen Comic. So erschaffe ich mir eine Art ,Drehbuch‘. Danach lege ich den Märchentext weg, sehe mir nur das Drehbuch an und erzähle die Bilder der Reihe nach mit eigenen Worten. So entsteht ein Film im Kopf, ein inneres Kino.“

In einem dritten Schritt sei es empfehlenswert, alle Szenen des Märchens ohne Worte nachzuspielen – „wie ein Pantomime mit dem ganzen Körper, mit Händen und Füßen“. Dadurch entstehe eine besondere Berührtheit. „Es ist, als würde ich in der Welt des Märchens leben. In dem Moment erschaffe ich eine neue Welt. Ich lasse die unsichtbare innere Welt in der äußeren Welt sichtbar werden. Das ist die Arbeit des Erzählers.“ Und das Publikum hört sicher zu.

Das kleine Nashorn...
Das kleine Nashorn... © (c) Demande Philippe - stock.adobe.com (Demande Philippe)

Das Nashorn - ein Märchen von Frederik Mellak

Es lebte einmal ein Nashorn im Hohen Norden an einer eisigen Felsenküste. Wie Steinleichen ragten harte Buckel aus dem Sand. Und das Nashorn rannte blind vor Wut zwischen den Felsen herum und wusste nicht, welch trauriges Schicksal es in den kalten Norden verschlagen hatte. Die Haut war ihm rau und undurchdringbar geworden von ungezählten Kämpfen mit den Felsen. Kam der Frühling und trieben die ersten grünen Spitzen aus dem kargen Boden, trampelte das Nashorn erbarmungslos über die Keime.

Einmal aber, der Schnee war wieder geschmolzen, streckte sich eine kleine, violette, dreiblättrige Blüte wie eine Seidenhand ins Sonnenlicht. Da kam das Nashorn und zertrat den kleinen Stern. Am anderen Morgen jedoch wuchs die Blüte an derselben Stelle und war sogar etwas größer geworden. Das Nashorn wälzte sich erbost über die Blüte. Doch am nächsten Morgen stand sie wieder da. Sooft das Nashorn die Blüte zerstörte, trieb sie bis zum nächsten Morgen wieder aus, jedes Mal ein Stück größer. "Warum stirbst du nicht, du elender Farbenfleck!", brüllte das Nashorn.

"Die Erde. Die Erde.", lispelten die Blütenblätter.

Schon hatte das Nashorn die handgroßen Blätter mit seinem Horn durchbohrt und in die Luft geworfen. Danach wühlte es die Erde auf und zerstampfte jede auch noch so kleine Wurzel, die es finden konnte.

Am nächsten Morgen blühte der violette Stern größer und schöner als zuvor. Das Nashorn wälzte einen Stein über die Stelle. Die Blüte drang seitlich durch, so hoch wie das Knie eines Menschen.

"Warum stirbst du nicht?", knirschte das Nashorn voll Hass.

"Die Sonne. Die Sonne.", strahlte die Blüte.

Das Nashorn zerfetzte die seidigen Blätter und stellte sich über den Platz, sodass sein dicker Schatten keinen Sonnenstrahl bis zur Erde ließ. Trotzig und wütend stand es so den ganzen Tag. Doch am nächsten Morgen spannte sich der Blütenkelch wie ein kleiner Strauch. Schäumend zertrat das Nashorn das Gewächs und legte sich nun auch die Nacht über auf die Stelle.

Am anderen Morgen aber schwebte das Nashorn in der Luft, getragen von einer riesigen, hauchzarten violetten Blüte, die durchsichtig erschien und doch nicht zu zerreißen war.

"Warum stirbst du nicht?", flüsterte das Nashorn kleinlaut.

"Die Liebe. Die Liebe.", tönte eine weiche Stimme,

und die Blütenblätter legten sich um das Nashorn. Kleine Bäche von Tauwasser benetzten seine harte Haut, bis sie weich und feucht geworden war.

Quelle: Frederik Mellaks neues Märchenbuch „Herr Franz hört die Dinge lachen. Die schönsten Märchen von Frederik Mellak aus 25 Jahren“ 
Bestellbar beim Autor unter frederik.mellak@aon.at 

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