Was essen? Es ist zwölf Uhr zu Mittag. In den nächsten 48 Stunden werde ich in den Wald übersiedeln und nur von dem leben, was mir die Natur bietet. Mir ist völlig unklar, ob ich genug finden werde, um nicht extremen Hunger leiden zu müssen. Nur vom Beerennaschen wird sich das wohl nicht ausgehen. Wobei Beeren ohnehin knapp sind, da der Herbst bereits merklich Einzug gehalten hat. Ich hoffe umso mehr auf Samen: Haselnüsse, Bucheckern und ähnliches. Pilze wären wunderbar, wobei ich aber gerade einmal drei essbare Sorten unterscheiden kann. Brennnesselsuppe ist ein solider Notfallplan, auf den ich gespannt bin, da ich das noch nie gegessen habe.
Ich rechne mit veganer Ernährung, da ich keine Nester ausräumen werde, keine Angel dabei habe und nicht vorhabe, Tiere zu jagen. Dabei fällt mir ein, was mein Schwager mir einmal erklärt hat: „Ein Veganer ist wie eine Kuh: Er isst den ganzen Tag vor sich hin.“ Nachdem ich ohnehin nicht mit drei vollen Mahlzeiten rechne, wird das meine Strategie sein. Ich esse alles, von dem ich denke, dass es essbar ist und davon soviel wie möglich

"Man kann nie genug Sauerklee essen"

Irgendwann wird mir klar, dass der Schlüssel zur Energieerhaltung nicht das Essen, sondern das Nicht-zuviel-bewegen sein wird. Die meisten Tiere halten auch den Großteil des Tages still. Fühlt sich nach Geduldsprobe an. Es geht los.

Sauerklee als Vorspeise, Hauptspeise, Nachspeise und Snack zwischendurch
Sauerklee als Vorspeise, Hauptspeise, Nachspeise und Snack zwischendurch © Aberer


Eine kleine Straße führt mich über Äcker und Wiesen in den Wald. Einen Apfel, der von einem nahen Baum auf den Weg gekullert ist, stecke ich ein. Mein Joker für harte Zeiten.
Später finde ich Brombeersträucher. In meinem Kopf dreht sich das Mantra: „Man kann nie genug Brombeeren essen, man kann nie genug Brombeeren essen, man…“ Als der Wald dichter wird, ändert sich das zu: „Man kann nie genug Sauerklee essen.“ So grase ich mich den Weg entlang. Haselnüsse und Buchäckern sind eine Enttäuschung. Die dürften erst in einem Monat reif sein. Bleibt noch, auf Pilze zu hoffen. Tatsächlich finde ich einige obskure Schwammerl, die ich aber alle links liegen lasse.

Langsam merke ich, wie sich einstellt, was ich mir erhofft habe: Entschleunigung. Ich werde langsamer. Jeder Schritt wird bewusst gesetzt. Ich atme ruhig, lasse den Blick schweifen. Hauptsächlich um Essbares zu finden. Dabei fallen mir viele Details auf, an denen ich sonst vorbeigewandert wäre. Durch mein Suchen fordere ich meine Aufmerksamkeit.

Gekochte Brennessel - eine Qual

Es geht mir auch nicht um Selbstkasteiung, sondern um Achtsamkeit; durch das Weglassen einer sonst selbstverständlichen Sache wie gesichertes Essen den Blick zu verändern. Verstehen, was uns die Natur ohne Landwirtschaft geben würde und auch einen Blick nach innen zu richten auf die eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten.
Am Abend sitze ich am Lagerfeuer und fühle mich gut. Es war zwar eine Qual, die gekochten Brennnesseln runterzuwürgen, aber ich genieße, wie es um mich herum dunkel wird.
Mein heutiges Essen:
• zwei Hand voll Brombeeren
• eine Hand voll Klee
• eine Hand Löwenzahnblätter
• zwei schwarze Holunderbeeren (gar nicht so schlecht)
• 200 Gramm Brennessel

Die Nacht war nicht sehr angenehm. Der Schlafsack war zu dünn und ich vor allem damit beschäftigt, mich selbst zu umarmen. Als die Sonne durchs Gehölz blinzelt, sitze ich eine halbe Stunde auf meiner Isomatte und esse Löwenzahnblätter, die rund um mich wachsen.

Höhepunkt der Menükarte: In Wasser gedünstete Eierschwammerl
Höhepunkt der Menükarte: In Wasser gedünstete Eierschwammerl © Aberer


Später entdecke ich ein Eierschwammerl. „Wo ein Eierschwammerl ist, müsste es auch noch mehrere geben“, sagt mir mein Laienpilzwissen und ich blicke rundum: Gold! Kleines, aus dem Boden schießendes Gold. Innerhalb einer Viertelstunde habe ich mein kleines Proviantglas prall gefüllt. Ich fühle nicht nur das Glück des Schwammerlsuchers, sondern auch große Erleichterung, nicht hungrig schlafen gehen zu müssen.
Am Weiterweg stoße ich auf einen Holunderstrauch. Er hängt voller dunkler, überreifer Beeren. Ich lange gierig zu. Der Geschmack ist bitter, intensiv, aber es ist ok. „Diese Ration wird mich wohl gut zum Übernachtungsplatz tragen“, freue ich mich. Eine Stunde später bin ich mir da nicht mehr so sicher. Mir ist leicht übel.

Mit Wasser aus meiner Trinkflasche verdünne ich die Überdosis an Holler in meinem Magen. Nachdem ich meine Wasserflasche beim Bach aufgefüllt und Holz für ein Lagerfeuer gesammelt habe, finde ich noch einen Steinpilz. Was für ein Glück! Den zweiten in meinem Leben. Das macht den Tag perfekt. Ich leere etwas Wasser zu den Eierschwammerln im Edelstahltopf, schließe den Deckel und stelle ihn ins Feuer. Mit einem Spieß aus Buchenholz genieße ich jeden einzelnen Pfifferling. Danach schlürfe ich die Suppe aus, es folgt der zweite Gang: Steinpilz. Wieder das gleiche Rezept. Ein bisschen Wasser, ein bisschen Salz – perfekt. Ich schaue noch einige Zeit ins Feuer, dann in den Sternenhimmel und freue mich aufs Nachtlager.
Mein heutiges Essen:
- viele Löwenzahnblätter
- viel Klee
- vier Hände voll Holunder-
beeren
- fünf Himbeeren
- acht Brombeeren
- ein Gänseblümchen
- eine Haselnuss
- rund 200 Gramm Eier-
schwammerl
- ein Steinpilz
- keine Brennnesseln – Juhu!

Ein Apfel als Joker. Ansonsten dominiert Salatgrün.
Ein Apfel als Joker. Ansonsten dominiert Salatgrün. © Aberer

Ich wache bei weitem nicht so fit auf, wie ich es erwartet habe. Mein Kreislauf kommt nicht in die Gänge. Was ich bisher in Summe gegessen habe, war zwar viel mehr als Nichts, aber weit weniger Kalorien als mein Körper gewohnt ist. Ich tröste mich damit, dass ich nur mehr sechs Stunden durchhalten muss. Da fällt mir der kleine Apfel ein. Gierig verschlinge ich ihn, versuche aber dabei gut und oft zu kauen. Mein Bauch gurgelt zufrieden.

Keine Spuren hinterlassen

Mit Dehnübungen komme ich in die Gänge, packe meine Sachen und baue die Feuerstelle zurück. Ich möchte keine Spuren hinterlassen. Zum Abschluss gibt es noch eine feine Überraschung: Brombeerbüsche am Wegrand.
Mein Abschlussmenü:
- ein Apfel
- eine Hand voll Brombeeren
- ein paar Löwenzahnblätter

Mein Fazit: Es geht. Vor allem über so kurze Zeit und solange man etwas zu trinken hat. Wirklich verhungern würde der Mensch ja erst nach mehreren Tagen ohne Nahrung. Dementsprechend habe ich es sehr genossen. Das Naturerlebnis war intensiv und man bekommt einen Einblick in das fragile Leben anderer Lebewesen, die auf die natürlichen Kreisläufe angewiesen sind.

Ein Hauch von Existenzangst

Ich konnte einen Hauch von Existenzangst spüren, die sicherlich nach mehreren Tagen intensiver geworden wäre. Oft habe ich mich gefragt, wie lange es wohl dauern würde, bis ich auch Schnecken, Insekten und Eidechsen essen würde. Ich glaube, keine Woche.
48 Stunden allein im Wald ist auch keine Zeit, in der einem langweilig wird. Es gibt viel zu sehen, zu erfahren und zu spüren. Die Natur ist keine liebende, gütige Mutter, die die Füllhörner ausschüttet. Sie ist ein beinharter Kreislauf, sie ist ständiges ineinandergreifen von Abläufen und sie ist vor allem faszinierend genial in ihrer Entstehung. Schade, dass wir uns viel zu selten die Zeit nehmen, das zu sehen.