Herr Schubert, Sie beforschen an der Med Uni Innsbruck die Psychoneuroimmunologie. Können Sie erklären, was hinter dem komplizierten Begriff steckt?
Christian Schubert: Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus einer Studie: Studenten bekamen eine Adrenalinspritze, die dazu geführt hat, dass die natürlichen Killerzellen im Blut angestiegen sind – das sind Abwehrkämpfer des Immunsystems. Gleichzeitig mit der Spritze bekamen sie auch ein Brausebonbon. Dieses Prozedere hat man vier Tage lang wiederholt – am fünften Tag bekamen die Studenten nur noch das Bonbon, und auch da stieg die Zahl der Killerzellen im Blut an. Das Immunsystem wurde also konditioniert. Das Experiment war der Start der Psychoneuroimmunologie, denn es zeigt: Die Systeme in unserem Organismus sind vernetzt und arbeiten nicht unabhängig voneinander!

Von welchen Systemen sprechen wir hier: Körper und Seele?
Es gibt eine konstante Wechselwirkung zwischen dem Hormon-, dem Nerven- und dem Immunsystem in unserem Körper. Das ist der Kern der Psychoneuroimmunologie: Zwischen den Systemen gibt es keine Grenzen – und das gilt auch für die Verbindung mit der Umwelt. Die Psychoneuroimmunologie liefert die wissenschaftlichen Beweise dafür, dass es eine ganzheitliche Medizin braucht.

Hat sich diese Erkenntnis, das Zusammenspiel aller Systeme im Organismus, in der Medizin schon etabliert?
Nein, der Großteil des Gesundheitssystems tickt noch maschinenideologisch. Der Mensch wird wie eine Maschine gesehen, diagnostiziert und behandelt, Körper und Seele werden getrennt. Leider wird dabei übersehen, dass ein Großteil unserer Erkrankungen, vor allem jene, die chronisch sind, mit der Lebenssituation eines Menschen zusammenhängen. Unsere Beziehungen, die Gesellschaft, unverarbeitete Konflikte: All das kann krank machen und Krankheiten aufrechterhalten. Die Medizin versagt gerade dort, wo Krankheiten ganzheitlich zu sehen sind.

Von welchen Krankheiten sprechen wir zum Beispiel?
Zum Beispiel ist bekannt, dass Autoimmunerkrankungen stark mit psychischen Faktoren und sozialen Umständen zusammenhängen. Diese Krankheiten steigen rasant an, denken Sie an Rheuma, multiple Sklerose oder chronische Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa. Patienten selbst wissen oft, dass die körperlichen Beschwerden mit ihrer psychischen Situation zu tun haben, mit Stressoren, den Dingen des Alltags, die emotional berühren. Doch eine Maschinen-Medizin will das nicht sehen. Körper und Psyche sind aber bei allen Erkrankungen untrennbar verbunden. Wie wird aus einer psychischen Belastung eine körperliche Krankheit?
Viele Menschen, die im Erwachsenenalter an körperlichen Erkrankungen leiden, haben früh im Leben schwere psychische Belastungen erlebt. Solche Erlebnisse verändern das Stress-System: Die Menschen sind zunächst chronisch gestresst, sie haben zu viel Kortisol im Blut, leiden häufiger an Infektionen, Allergien. Irgendwann kommt es zu einer Unterfunktion des Stresssystems: Nun wird zu wenig Kortisol ausgeschüttet, sodass Entzündungen im Körper nicht mehr unterdrückt werden. Der Organismus gerät in einen dauerhaften Entzündungszustand. Das ebnet den Weg für Stoffwechselkrankheiten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und auch Krebs.

Welche Traumatisierungen können diese chronische Entzündung auslösen?
Das kann schon im Mutterleib passieren: Übermäßiger Stress der Mutter, Beziehungsprobleme oder finanzielle Sorgen können direkte Effekte auf das ungeborene Kind haben – und die Probleme setzen sich nach der Geburt meist fort. Wir wissen, dass Menschen, die unter instabilen und emotional vernachlässigenden Bedingungen aufgewachsen sind, später öfters an Stresssymptomen und Erkrankungen leiden. Die Leistungsanforderungen der Gesellschaft, die ja immer schlimmer werden, tun ihr Übriges.



Sie sagen: Die Gesellschaft ist der größte Krankmacher. Woran machen Sie das fest?
Der Mensch wird ja nicht nur in der Medizin wie eine Maschine behandelt: Wir sehen das auch im Arbeitsleben, wo Menschen immer öfter unter Bedingungen arbeiten müssen, in denen sie wie Maschinen funktionieren. All das geht auf Kosten des typisch Menschlichen: Beziehungen, Ruhe, Zeit, Natur.

Wie können diese Bereiche in die Medizin einfließen?
Wir wissen, dass Faktoren wie Berufsstress, Beziehungsprobleme oder Traumatisierung unser Immunsystem beeinflussen. Umgekehrt wissen wir, dass psychologische Behandlungsaspekte wie Hypnose, das Ausdrücken von Emotionen oder Meditation den Immunschutz steigern, Entzündungen reduzieren und die Zellalterung verlangsamen. Auch Psychotherapie dürfte solche Effekte haben. Wir konnten in der psychoneuroimmunologischen Forschung zeigen, dass Patienten sich nicht nur „einbilden“, dass es ihnen besser geht – es kommt tatsächlich zu molekularen Veränderungen.

Wie sollte die Zukunft der Medizin also aussehen?
Wir brauchen eine Beziehungsmedizin! Jede Beziehung, die wir eingehen, wirkt positiv oder negativ. Es gibt auch kein Medikament, dessen Wirkung nicht von der Beziehung zum Verschreibenden abhängt. Heute lernen Medizinstudenten zu 95 Prozent technische Behandlungsmethoden. Eine veränderte Medizin würde neue Aspekte einbringen: Sie hätte keinen Zweifel daran, dass uns Beziehungen, die Gesellschaft und unsere individuelle Biographie krank machen, aber auch heilen können.