Der Anruf kam auf der Autobahn zwischen der Frankfurter Buchmesse und dem Wahlkampfabschluss der CSU in München. Der Vater klang gewohnt ruhig. „Die gute Nachricht: Ein Paket ist für dich angekommen.“ Es folgte eine Pause. „Die schlechte Nachricht: Der Krebs hat gestreut. Die Therapie wird nicht mehr fortgeführt.“ Wie lange wir noch haben, darauf könnten die Ärzte keine Antwort geben.

Für uns waren niederschmetternde Gespräche schon Routine, immerhin hatten wir eineinhalb Jahre Erfahrungen mit guten Prognosen und traurigen Rückschlägen. Doch bisher begleitete uns immer Hoffnung. Sie war nun gewichen. Nur eines sei klar, sagte mein Vater: Beide hätten besprochen, dass meine Mutter zu Hause sterben will. Er, der schon in den Monaten zuvor die Hausarbeit weitgehend allein bewältigt hatte, auch wenn meine Mutter noch für sich Sorgen konnte, war bereit, sich der Aufgabe zu stellen. Ich wollte sie auf diesem Weg möglichst lange begleiten und fuhr zu ihnen.

Was das genau heißen würde, sollten wir in den kommenden zwei Wochen lernen.

Es kommt unvorbereitet

Die Mutter daheim in den Tod zu begleiten, darauf kann man sich nicht vorbereiten. Es ist eine an Grenzen gehende Begegnung mit sich selbst, mit den Eltern und auch mit den Geschwistern. Wer weiß schon genau, wie es ist, zu sterben? Wie es ist, alle paar Augenblicke ins Zimmer zu gehen und zu schauen, ob sie noch atmet? Wie nimmt man Abschied, wenn man doch nicht weiß, wann es so weit ist, und der Sterbende auch nicht bereit ist, sich zu verabschieden? Ja, wir kennen die nüchternen Zahlen, wir kennen die physiologischen Prozesse, die Abläufe davor und danach. Wir kennen den Aufwand, den die Medizin bis zum letzten Atemzug betreibt. Aber die Gedanken, wenn man das Sterben erlebt, kommen unvorbereitet. Meine Mutter war 67. Das ist doch kein Alter zum Sterben.

Uns Geschwister verbindet ein Bild aus der Kindheit, das sich tief eingebrannt hat und nun wieder mit voller Wucht ins Bewusstsein rückte. Ich war sieben Jahre alt, mein Bruder drei, als wir die Großmutter zu Besuch hatten. Als wir sie nach Hause brachten, stürmten wir Buben in die Wohnung und fanden unseren Großvater im Wohnzimmer. Er saß im Sessel. Sein Herz war im Mittagsschlaf stehen geblieben. Meine Großmutter erlitt kurz darauf einen Schlaganfall und lag vier Jahre im Pflegeheim. Die Bilder unserer wöchentlichen Besuche sind bis heute traumatisch. Ein Onkel wählte später das Wort Siechenheim für diesen Ort.

Die Geister der Vergangenheit

Es war ein wichtiger Grund, warum wir es Mutter daheim so angenehm wie möglich machen wollten. Den Rest mussten die Schmerzmittel machen, die ein mobiler Pflegedienst brachte, der täglich einmal vorbeischaute. Wir konnten nur bei ihr sitzen, ihre Hand halten, sie aufrichten, damit sie nicht liegt, und sie wieder schlafen lassen, was auch uns in die eigene schwer rotierende Gedankenwelt wieder entließ. Meinem Vater kam dabei die Hauptlast zu. Wir tauschten uns über die Gedanken aus – nicht einfach, wenn beide nicht die größten Gedankenaustauscher sind.

Aber auch das Verhältnis zu ihr war ungewohnt. Jene Frau, die immer alles selbst machen wollte, sich nur schwer helfen lassen konnte, selbstbewusst war und uns Kinder dazu erzog, dass Frauen in der Welt ihren gleichberechtigten Part hatten und wir Männer sie dabei unterstützen sollten, lag nun hilflos da. Sie, die noch vor wenigen Monaten am Telefon Rat wusste, wenn das Leben einmal etwas in Schieflage geraten war, konnte nun kaum noch reden und hörte nur mit Mühe zu. Ihr nun die Hand zu halten und etwas Tröstendes zu sagen, was ohnehin unmöglich schien, war eine Erfahrung, die mich zeitweise überforderte. Dabei war es ihre Nähe, die mich prägte.

Bilder der Kindheit

In mir weckte es viele Bilder aus der Kindheit, die etwas in den Hintergrund geraten waren. Bezeichnend ist, dass sie ihre größte Kraftanstrengung verwendete, um ihrem fünfjährigen Enkel die Freude über sein Bild zu zeigen. Er machte vor, wie Kinder mit dem Thema umgehen können. Als er alleine aus ihrem Raum kam, sagte er voller Freude: Die Omi atmet noch.

Für mich war die Auseinandersetzung neu und damit bin ich nicht allein. Das Sterben in unserer Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten aus unseren Häusern weitgehend verabschiedet. Die meisten Menschen sterben in Kranken- oder Pflegeeinrichtungen sowie in Hospiz- oder Palliativeinrichtungen, das Sterben erfolgt für Angehörige oft nicht mehr unmittelbar. Es liegt auch am zunehmenden Alter. Von den 83.270 Gestorbenen in Österreich im Jahr 2017 war fast ein Viertel jenseits der 90, mehr als die Hälfte über 80 Jahre alt und 85 Prozent waren im Pensionsalter. Rund 75.000 Menschen leben in Österreich in Alten- und Pflegeheimen.

Wir haben das Sterben professionalisiert

Wir haben das Altern, Pflegen und Sterben weitgehend professionalisiert. Rund 75 Prozent wünschen sich nach einer Studie der Universität Klagenfurt zwar den Tod daheim oder haben keine Präferenz, aber nur rund ein Viertel der Menschen ist in den vergangenen Jahren auch tatsächlich dort gestorben. Die meisten häuslichen Todesfälle waren Unfälle oder hatten ihre Ursache im Herzkreislaufsystem, sind in der Regel also nicht mit einer längeren aktiven Sterbebegleitung verbunden. Die Hälfte aller Menschen starb dafür aber genau dort, wo es nur wenige wollen: in Krankenanstalten. Und noch einmal rund 20 Prozent in Pflegeheimen sowie zwei bis drei Prozent in den Palliativ- oder Hospizbetten des Landes. Deutschland unterscheidet sich in den Zahlen übrigens nicht wesentlich.

Für die aufwühlenden Gefühle während des Sterbens ist dort kein Platz. Das ist kein Vorwurf – an niemanden. Weder sind die Mitarbeiter in den Heil- und Pflegeanstalten nicht guten Willens, noch würden es viele Familien nicht gerne anders machen. Doch Familie, Beruf, gesellschaftliche Normen und technische Möglichkeiten haben sich verändert. Sterben mit einer schweren Krankheit ist ein zeitintensiver Prozess. Beiden Seiten fehlt es an Zeit in diesem letzten Moment. Allerdings: Ohne eine solch ausgefeilte Medizin wäre meine Mutter deutlich schneller gestorben. Den letzten Weg wollte sie aber partout nicht dort gehen.

Bald sehen wir uns wieder

Am Sonntag entschied ich mich, Sohn und Frau nicht allein die neun Stunden zurück nach Graz fahren zu lassen, und versprach meiner Mutter beim Abschied: Ich bin schon bald wieder da. Sie winkte sanft. Am Dienstag ging ich joggen. Auf einmal vibrierte mein Mobiltelefon. Ich stoppte und las die SMS: „Eure Mami, Omi und Elke hat die letzte Reise angetreten.“ Minuten später saß ich wieder im Auto. Mein Vater war im Garten. Meine Mutter hatte geschlafen. Sie sah friedlich aus.