Am Tag vor der Beerdigung meines Vaters standen wir Geschwister ungewohnt einträchtig um seinen offenen Sarg. Ich sah in seinem Gesicht die Karawane der Generationen vorüberziehen, doch ihn selbst habe ich fast nicht wiedererkannt. Nur die Ohren sahen noch wie zu Lebzeiten aus.

Einst, als wir alle noch um den Esstisch saßen, hat mein Vater mit diesen Ohren gewackelt. Es war ein Signal, das, so vermute ich, von uns Kindern mit der gleichen Erleichterung registriert wurde. Es hieß, er war guter Laune. War er es nicht, war die Äußerung seines Unmuts freilich keineswegs gleich verteilt. Seit Kain seinen Bruder Abel erschlug, ist es offenbar eine von jeder Familie aufs Neue errichtete Illusion, dass Eltern jedem Kind dieselben Gefühle und Reaktionen entgegenbringen.

Als Kind habe ich mir immer eine Zwillingsschwester gewünscht, obschon es mir an Geschwistern nicht mangelte. Zuweilen fand ich, wir vier seien mindestens zwei zu viel. Dabei ist es nicht so, dass ich lieber keine Geschwister gehabt hätte. Nur den Thron, den stets die anderen beanspruchten - die älteste Schwester, der einzige Junge, das Nesthäkchen -, hätte ich gerne einmal für mich gehabt. Als mittleres Kind ist man ohne Alleinstellungsmerkmal im Kampf um den Logenplatz nicht besonders gut positioniert. Erst später im Leben merkt man, dass das früh erzwungene Einüben des Verzichts gegen die selbstzerstörerische Macht der Eifersucht immunisiert.

Väterliche Aufmerksamkeit

Der Streit um den Thron, oder besser: Die Gunst der väterlichen Aufmerksamkeit hat schon in der Bibel den ersten Mord produziert; im zweiten Kapitel tötet ein Mensch seinen Bruder. Nimmt man die Bibel wörtlich, dann ist der Grund dafür nicht zuletzt in Gottes Parteilichkeit zu suchen; immerhin hat der Herr, der Überlieferung nach, Abels Opfergaben ohne Angabe von weiteren Gründen den Vorzug gegeben.

Es begab sich nämlich (im ersten Buch Mose), „dass Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an.“ Von friedensstiftender Pädagogik hatte Gott wohl noch nichts gehört.

„Soll ich meines Bruders Hüter sein?“, fragt Kain empört, und die Antwort lautet von da ab: Ja. Denn Kain war der Ältere, und es sieht so aus, als habe das „Entthronungsdrama“, das die Psychologen für viele Spannungen unter Geschwistern verantwortlich machen, auch damals schon eine Rolle gespielt. Da ist die Rolle des Hüters der Nachkommenden ein wenn nicht von Gott oder der Genetik, dann von der Gesellschaft auferlegter Schutz der Brut. Die Ankunft eines Geschwisters ist für den Menschen nämlich keineswegs nur Grund für eitel Sonnenschein. Mit dem zweiten Kind fängt der Schlamassel an: Eifersucht, Rivalität, das Gerangel ums größere Playmobil und den Platz neben dem Fahrersitz. Immerhin tröstlich, dass aus diesem Schlamassel auch ein großes Glück werden kann.

Konflikte mit Geschwistern

Im Großen und Ganzen entwickeln wir uns nämlich nicht zuletzt mithilfe unserer Geschwister zu halbwegs vernünftigen Individuen, die ihr Benehmen den Erfordernissen des Tages strategisch anzupassen verstehen. Doch wenn es zu Konflikten mit den Geschwistern selber kommt, sind auch Jahrzehnte zivilisatorischer Einübung in die Erwachsenenwelt häufig von einer Sekunde zur anderen ausgelöscht. Unweigerlich, ja automatisch fallen wir in alte Rollen zurück.

Die alten Muster sind ein Gefängnis, das bei jedem Familientreffen neu aufgebaut wird. Das liegt nicht nur daran, dass wir die heimlichsten Nöte und Ängste, die Schwächen und Niederlagen der Brüder und Schwestern meist so gut kennen. Es hat vor allem mit der tiefen, nicht zu tilgenden Wucht unserer frühesten elementaren Gefühle zu tun.

Geschwister sind die ersten, mit denen wir die Abgründe der menschlichen Psyche ausloten: Wut, Hass und das giftigste aller Gefühle, den Neid. Aber unser Gefühl für Fairness und mehr noch für Ungerechtigkeit geht ebenfalls auf die Kindheit zurück. Das Kinderzimmer ist unsere Schule für das, was später soziale Kompetenz genannt werden wird, der Ort, wo man sich zu behaupten und anzupassen, sich zu wehren und zu versöhnen lernt.

Es gibt Geschwister, die gehen zusammen durch dick und dünn. Die sehen in Schwester und Bruder die Garanten einer unverbrüchlichen lebenslangen Verschworenheit. „Er ist mein Bruder“ ist die unumstößliche Formel für eine Verpflichtung, die keine Begründung braucht. Die meisten freilich kultivieren eine dauerhafte Ambivalenz, die nicht selten zu unverhohlener Feindschaft führt. Ich kenne etliche Menschen, die mit wenigstens einem Geschwister nicht reden. Die Gründe dafür sind häufig ein halbes Jahrhundert alt.

Familienfehden im TV

Die Literatur und die Produktion von Fernsehserien leben von der Familienfehde. Die von den Eltern und der Persönlichkeit, den Umständen und der Position in der Geburtenfolge erzeugten Konstellationen, man könnte auch sagen: Klischees, sind der Stoff, aus dem unsere spannendste Unterhaltung sich speist. Wer die archaischen Kräfte dieser Dynamik studieren und nicht gleich zu den „Brüdern Karamasow“ greifen will, dem sei hier als Beispiel das Netflix-Drama „Bloodline“ ans Herz gelegt, eine amerikanische Serie, die auf einem Familienbesitz in Floridas paradiesischen Keys alle Geschwisterkonflikte mit der Wucht tropischer Stürme durchspielt. Der doppelbödige Titel deutet schon an, dass dies nicht ohne Blutvergießen abgeht.

Man muss nicht die inzwischen inflationäre Ratgeberliteratur bemühen, um zu erkennen, dass die prägende Rolle der Geschwisterposition tief in der menschlichen Psyche verankert ist. Der dominante Älteste, der rebellische Zweite, das verwöhnte Nesthäkchen oder das ewige Aschenputtel - das sind Archetypen der Mythologie. Selbst die narzisstische Kränkung, bei der Garderobe am untersten Ende der Vererbungskette positioniert zu sein, hat sich im Märchen niedergeschlagen. Es ist noch nicht lange her, da kamen jedem Mädchen, das die Kleider der älteren Schwestern auftragen musste, Aschenputtels böse Stiefschwestern in den Sinn. „Sie nahmen ihm seine schönen Kleider weg, zogen ihm einen grauen, alten Kittel an und gaben ihm hölzerne Schuhe.“

Dass die älteren Schwestern immer auch Stiefschwestern, nämlich den jüngeren gegenüber neidisch sind, ist ein Klassiker jeder Familienaufstellung. Kann es sein, dass der Neid eine biogenetische stiefschwesterliche Prägung hat? Im Märchen aber gibt es, anders als im Leben, meist eine ausgleichende Gerechtigkeit, und Aschenputtel tanzt zuletzt in goldenen Schuhen. Selbst goldene Schuhe helfen freilich nicht gegen die Einsamkeit, das hat die Dichterin Else Lasker-Schüler in einem himmeltraurigen Gedicht für ihren Geliebten und Bruder im Geiste, Gottfried Benn, ins Versmaß gebracht. „Ich stand in goldenen Schuhen und Du kamst nicht mit dem Abend.“ Man sieht sie da immer noch stehen, eine einsame Existenz.

Sechs Geschwister

Obschon sie sechs Geschwister hatte, kann man sich Else Lasker-Schüler eigentlich nur als Einzelkind vorstellen; sie starb, von den Nazis um ihre Familie und Herkunft gebracht, mutterseelenallein im Exil. Wenn wir unsere Schwestern und Brüder lieben, sind sie ein Gegengift gegen solche Mutterseelenverlassenheit. Sie sind diejenigen, die wir, anders als unsere Freunde, nicht aus- und abwählen können, mit denen wir die Erinnerung teilen, sie sind ein lebendes Familienarchiv. Und wenn die Eltern sterben, bleibt mit den Geschwistern ein Stück unsrer Kindheit zurück.

Denn wo Rivalität und Eifersucht nicht zu tiefe Wunden geschlagen haben, geht von Schwestern und Brüdern eine Vertrautheit aus, die tief im Körper verankert ist. Man teilt ja die prägendste Lebenszeit. Selbst wenn man sich zutiefst fremd geworden ist - eine Basis bleibt immer da. Sie kommt zum Vorschein, wenn ein Elternteil stirbt und man mit denen, die mit einem übrig bleiben, um den Sarg steht und sich an die lustig wackelnden Ohren des Vaters erinnert. Und wenn man Glück hat, dann hat dieser Vater in weiser Voraussicht dafür gesorgt, dass nicht gleich darauf der blutige Streit ums Erbe ausbricht.