Der kleine Problembär Bummbumm, in dem es in Ihrem neuen Kinderbuch geht, ist so ungeschickt, dass er ständig sich selbst und anderen wehtut. Als Ergotherapeutin arbeiten Sie mit vielen Kindern, denen es geht wie dem kleinen Bummbumm: Was stimmt mit ihnen nicht?

Der kleine Tollpatsch Bummbumm macht sich wenig beliebt - und leidet darunter...
Der kleine Tollpatsch Bummbumm macht sich wenig beliebt - und leidet darunter... © Daniel Spreitzer/ Verlag Bibliothek der Provinz

ISOLDE FEHRINGER: Salopp formuliert spürt sich der kleine Bär einfach nicht. In der Fachsprache heißt das ,propriozeptiv unterempfindlich’, er hat eine Form der Wahrnehmungsstörung. Er kann tiefensensible Reize im Körper, die über Faszien, Sehnen, Muskeln, Gelenke und innere Organe wahrgenommen werden, nicht so verarbeiten wie andere Kinder. Von einem Problemkind will ich dabei aber nicht sprechen. Probleme bekommen Kinder wie Bummbumm ja nur, weil sie von anderen nicht verstanden werden. Ich sehe mich eher als ihre Fürsprecherin, die in der Familie, im Kindergarten oder in der Schule erklärt, warum sie Dinge tun, die für andere nicht nachvollziehbar sind. Deshalb habe ich mich auch entschlossen, dieses Kinderbuch zu schreiben. Es soll Kindern helfen, sich selbst zu erkennen und Worte für das eigene Erleben zu lernen – und anderen Kinder soll klar werden: „Der macht das nicht absichtlich.“

Einen Tollpatsch wie Bummbumm erkennen Sie woran?

ISOLDE FEHRINGER: Kinder wie Bummbumm haben oft Schwierigkeiten beim Erlernen von Abläufen – zum Beispiel bei grobmotorischen Aufgaben wie dem Laufen, bei feinmotorischen Aufgabenwie dem Sprechen oder bei Bewegungen, die Timing verlangen, dazu gehört zum Beispiel das Ballspielen. Es kann auch sein, dass ihnen Dinge ständig aus der Hand auf den Boden fallen, weil sie nicht spüren, ob sie etwas überhaupt gut in der Hand haben. Und es ist möglich, dass ihnen beim Kreideschreiben ständig die Kreide abbricht, weil sie zu fest drücken. Es geht bei dem Thema auch um das richtige Dosieren der eigenen Kraft. Ein Tollpatsch tut sich eventuell auch schwer, mit Besteck zu essen, weil es für ihn nicht einfach ist, den Arm so zu bewegen, dass er mit dem Löffel in den Mund trifft, und wenn er versucht, Saft in ein Glas zu schütten, gibt es eventuell regelmäßig eine Überschwemmung.

Was braucht nun so ein Kind wie Bummbumm?

ISOLDE FEHRINGER: Es braucht intensivere Reize, also körperlich größere Anstrengungen als andere Kinder – wie die Spiele, die im Buch beschrieben sind. Denn erst dann bekommt das Kind das Gefühl, dass es auch wirklich trägt, hält, hebt oder zieht. Je öfter es das tut, desto schneller werden die richtigen Nervenverknüpfungen gebildet. Das Kind bewegt sich sicherer und nimmt eigene und fremde Körpergrenzen besser wahr. Kinder wie Bummbumm lieben die Schwerarbeit, sie tragen gern den schweren Einkauf, schieben gern schwere Kisten mit Spielzeug durch die Gegend oder heben ihre Spielkameraden gern in die Luft.

So ist Bummbumm gut beschäftigt...
So ist Bummbumm gut beschäftigt... © Daniel Spreitzer/ Verlag Bibliothek der Provinz

Und betroffene Kinder suchen sich diese Reize nicht von allein? Dazu braucht es die Ergotherapie?

ISOLDE FEHRINGER: Ohne Unterstützung suchen sie sich diese Reize zwar, aber in sehr unstrukturierter Weise, bei der womöglich ständig alles fliegt und fällt, was Mama und Papa natürlich extrem nervt.

Ein bisschen einen Tollpatsch, Grobian oder Wildfang – oder wie auch immer man das jetzt nennen will – haben doch viele Kinder in sich. Ab wann ist eine Therapie nötig?

ISOLDE FEHRINGER: Es stimmt schon, dass es eher ruhige und eher wilde Kinder gibt. Eine Therapie ist dann nötig, wenn im Alltag das Umfeld, also Schule, Familie, Kindergarten, Eltern und das Kind selber unter der Situation leiden.

Ab welchem Alter arbeiten Sie mit den Kindern?

ISOLDE FEHRINGER: Ich habe teilweise sehr junge Kinder mit zwei Jahren, bei denen die Eltern sagen, sie tun sich so schwer, sich Bewegungsabläufe zu merken, fallen und stolpern so oft. Die sogenannte Wahrnehmungsschwäche besteht meistens von Geburt an, bei Kindern unter drei Jahren hat sie bloß einen anderen Namen: Da spricht man von Regulationsstörung.

Isolde Fehringer hat sich als Ergotherapeutin für Kinder auf die sensorische Integration ihrer Schützlinge spezialisiert. Seit 18 Jahren arbeitet die Niederösterreicherin immer wieder mit Kindern mit Wahrnehmungsschwäche und stellt dabei fest, dass das Thema noch immer weitgehend unbekannt ist
Isolde Fehringer hat sich als Ergotherapeutin für Kinder auf die sensorische Integration ihrer Schützlinge spezialisiert. Seit 18 Jahren arbeitet die Niederösterreicherin immer wieder mit Kindern mit Wahrnehmungsschwäche und stellt dabei fest, dass das Thema noch immer weitgehend unbekannt ist © Fehringer

Und das Problem wächst sich nicht von allein aus?

ISOLDE FEHRINGER: Nein, in diesem Sinne nicht, aber wie sich das Kind weiterentwickelt, hängt stark davon ab, wie gut es sich in seinem Umfeld eingebettet fühlt und ob man ihm genug von den prorezeptiven Reizen bietet, von denen einige auch in meinem Buch beschrieben sind.

Was, wenn ein Kind wie Bummbumm erst mit der Pubertät zu Ihnen kommt?

ISOLDE FEHRINGER: Also in der Pubertät können die Jugendlichen grundsätzlich besser spüren, was sie gern tun. Wenn die Pflichtschule vorbei ist und sie sich selbst für einen Beruf oder eine Schule selbst entscheiden können, machen sie dann meistens etwas, das ihnen gefällt und ihren Talenten und Fähigkeiten auch eher entspricht. Wer Grobes liebt, sollte schließlich nicht versuchen, ein Feinmechaniker zu werden.

Je nach Alter gibt es bei Kindern wie Bummbumm also ganz unterschiedliche Thematiken, um die es in der Therapie geht?

ISOLDE FEHRINGER: Ja, das geht von der Integration in den Kindergarten über die Vorbereitung auf die Schule bis hin zur Unterstützung bei einer Leseschwäche. Die Basissinne müssen ja gut funktionieren, damit ein Kind in der Schule gut mitkommt. Bekommt ein Kind mit Wahrnehmungsschwäche keine Unterstützung, wirkt sich das eventuell in einer Lernschwäche aus. Legasthenie kann eine Wahrnehmungsschwäche sein, Dyskalkulie, also Rechenschwäche, ist hingegen sicher eine.

Wie kommen Eltern überhaupt zu einer Ergotherapie für ihr Kind?

ISOLDE FEHRINGER: Der Kinderarzt entscheidet, ob ein Kind zur Ergotherapie sollte oder nicht. Das bedingt freilich, dass man seinem Kinderarzt sehr offen und ehrlich erzählen muss, welche Erfahrungen man mit seinem Kind im Alltag macht.