Wiener Forscher haben gemeinsam mit internationalen Kollegen einen neuen, für die verzögert eintretende Stressreaktion und die Langzeitwirkungen von Stress verantwortlichen Prozess im Gehirn identifiziert. Über das Hirnwasser wird mit einer zehnminütigen Verzögerung nach dem Auftreten von Gefahr derjenige Hirnbereich aktiviert, der auf den Stress reagiert und für das weitere Verhalten verantwortlich ist, berichtete die MedUni Wien.
(Interview mit Burn-out-Expertin Christina Maslach)

Neben den Wiener Wissenschafter waren auch die Budapester
Semmelweis-Universität, das Karolinska-Institut in Stockholm und die
amerikanische Yale-Universität an den Forschungen beteiligt. Die
Ergebnisse der internationalen Zusammenarbeit könnten neue
Perspektiven für das Verständnis der neuronalen Prozesse beim
posttraumatischen Stresssyndrom, bei chronischem Stress und bei
Burn-out bedeuten.

Bisher waren zwei Hauptstressmechanismen des Hirns bekannt,
erklärte Tibor Harkany von der Abteilung für Molekulare
Neurowissenschaften am Zentrum für Hirnforschung der MedUni Wien.
"Für die Auslösung beider Mechanismen ist eine im Hypothalamus
befindliche Nervenzellengruppe verantwortlich", sagte der
Wissenschafter. Der eine Prozess sei ein hormoneller Weg, bei dem
letztendlich über den Blutstrom aus der Nebenniere heraus innerhalb
von Sekunden nach der Stresseinwirkung Hormone freigesetzt werden.
"Der andere Prozess, der Weg über die Nerven, ist noch schneller",
meinte Harkany. In seinem Verlauf komme es in Sekundenbruchteilen zu
einer dem Verhalten entscheidend beeinflussenden direkten
Nervenverbindung in Richtung des präfrontalen Cortex.

Harkany hat nun gemeinsam mit Alan Alpar von der
Semmelweis-Universität, Tamas Horvath aus Yale und Tomas Hökfelt vom
Karolinska Institut entdeckt, dass dieselben Nervenzellen auch fähig
sind, auch auf einem dritten Weg eine Stressreaktion auszulösen,
deren Wirkung um einiges später auftritt und dauerhaft ist. Dabei
gelangt auch ein für die Entwicklung und Instandhaltung des
Nervensystems wichtiges Molekül, der sogenannte ziliare neurotrophe
Faktor (CNTF), der im Hirnwasser kreist, zur Stresszentrale.

Da es um einen sich mit dem Hirnwasser ausbreitenden Mechanismus
geht, ist er viel langsamer als der über den Blutstrom ablaufende
Prozess. Im Hirnwasser wird der Stoff langsamer verdünnt und kann
deshalb seine Wirkung länger andauernd entfalten. Die im Hirnwasser
befindlichen Moleküle hingegen bombardieren die Nervenzellen des
Stresszentrums, die den präfrontalen Cortex kontinuierlich wach
halten, unaufhörlich. In dessen Folge kommt es zu einem wacheren
Zustand des Nervensystems mit einer höheren Reaktionsfähigkeit.

Laut dem ungarischen Erstautor Alpar ist es sehr wahrscheinlich,
dass bei starkem Stress alle drei bekannten Mechanismen einsetzen.
Bei der Bildung der verzögerten, und damit dauerhaften Wirkung
spielt dieser dritte, von den Forschern identifizierte Prozesstyp
eine bedeutende Rolle. "Welche Bereiche des Gehirns für die
Antworten auf von außen kommende Stressreize verantwortlich sind,
wissen wir seit dem Gesamtwerk des weltberühmten Stressforschers
ungarischer Herkunft, Janos Selye. Er war es auch, der beschrieben
hat, was in einer Stresssituation passiert, wie der Hypothalamus die
Hypophyse, und diese wiederum die Nebenniere aktiviert", erklärte
Hökfelt. Stress ist allerdings ein länger dauernder Prozess. Die
Möglichkeit einer aus dem Umfeld kommenden Bedrohung kann also auch
länger bestehen, was vom Organismus nicht nur einen sofortigen,
sondern einen dauerhaften Aufmerksamkeitszustand abverlangt.