Wie ein Pendel vor seinem höchsten Ausschlag – so lässt sich die Stimmung in den USA im Jahr 1969 beschreiben: Die quietschbunte, eingerauchte Hippiewelt wabert über das Land, protestiert gegen den Vietnam-Krieg und fiebert dem musikalischen Manifest ihrer Lebenseinstellung entgegen: Woodstock.

Eine Woche zuvor wird in Los Angeles eine Ikone dieser Zeit bestialisch ermordet: Mit Dutzenden Messerstichen wird die 26-jährige Sharon Tate, Schauspielerin und schwangere Ehefrau von Regisseur Roman Polanski, regelrecht hingerichtet. Um ihren Hals eine Nylonschnur. Um sie herum: drei weitere Bekannte, ebenfalls mit Pistolen, Bajonetten oder Messern ermordet. Auf dem Grundstück wird die Polizei noch die Leiche eines zufällig vorbeigekommenen Mannes finden. An einer Wand prangt das Wort „Pig“ („Schwein“) – geschrieben mit dem Blut von Sharon Tate.

In Mordmaschinen verwandelt

Nur einen Tag später schlagen die Killer neuerlich zu: Der Supermarktketten-Besitzer Leno LaBianca und seine Frau Rosemary werden in ihrem Haus mit Messern und Bajonetten niedergemetzelt – wieder wird die Polizei zu den Folgen eines Gewaltexzesses gerufen, der untrennbar mit einem Namen verbunden ist: Charles Manson. Dunkle, lange Haare, durchdringender Blick – für viele seiner Landsleute ist er die Manifestation des Bösen, bis heute. Der damals 34-jährige Sektenführer aus Ohio (Cincinnati) verwandelte eine Gruppe junger, unbescholtener Menschen sukzessive in Mordmaschinen.

Psychologe Reinhard Haller
Psychologe Reinhard Haller © Jürgen Fuchs


Auch für abgebrühte Experten wie den Psychologen Reinhard Haller ist Manson ein Sonderfall: „Die Art und Größe des Verbrechens ist gigantisch und hat ein Stück weit in die damalige Zeit gepasst – die Morde sind ja im Rahmen eines Exzesses passiert. Besonders ist hier auch der Drogeneinfluss, der mit im Spiel war. Auch die Personifizierung des Bösen hat diese Tat so unvergesslich gemacht. Das Böse war hier nicht versteckt und hintergründig, es war ganz offen inszeniert.“

Häftlingsnummer B33920


Das „Böse“ ist heute 81 Jahre alt, trägt die Häftlingsnummer B33920 und sitzt im kalifornischen Corcoran-Gefängnis – vermutlich bis an sein Lebensende. Eine seiner Anhängerinnen hingegen hat Chancen auf Freilassung: Leslie Van Houten. Mit 17 Jahren war die einstige Ballkönigin am Mord an Rosemary LaBianca beteiligt, insgesamt 16 Mal hat sie auf die Frau eingestochen. Mit 19 Jahren wird sie mit Manson und zwei weiteren Mitgliedern der „Family“ zum Tod verurteilt. Das Strafmaß wird ein Jahr später nach der vorübergehenden Abschaffung der Todesstrafe in Kalifornien auf lebenslange Haft reduziert. 19 ihrer Gesuche um Begnadigung wurden abgelehnt, das 20. könnte für sie, die ihre Schuld an den Verbrechen wiederholt eingeräumt und bedauert hat, den Weg in die Freiheit bedeuten. Vergangene Woche hat eine Bewährungskommission ihre Freilassung empfohlen, jetzt ist Gouverneur Jerry Brown am Zug. Haller spricht sich bei Van Houten für eine Freilassung aus: „Wenn sie eine Therapie absolviert hat und draußen eine entsprechende Betreuung hat, sollte man ihr eine zweite Chance geben.“


Auch Manson hat bereits zwölf Gnadengesuche gestellt, alle wurden abgelehnt. Doch der Sektenführer genießt auch hinter Gittern eine hohe Popularität – Autogrammkarten mit seiner Unterschrift werden im Internet um Hunderte Dollar verkauft. Auch seine Faszination auf junge Damen scheint ungebrochen, erst im Vorjahr wollte der Mann mit dem eingeritzten Hakenkreuz auf der Stirn eine 27-Jährige heiraten. „Es ist letztlich die Fähigkeit all dieser Gurus, dass sie eine hohe manipulative Kraft haben. In der Regel sind sie narzisstisch, charismatisch und stehen für das Außenseitertum. Meist haben sie klare Botschaften – diese Kombination macht diese Menschen so anziehend. Manson hat zusätzlich noch das Böse inszeniert und kultiviert“, beschreibt Haller das Rezept von Manson und Co. Seine „Family“ hatte der oftmals als Monster titulierte Sektenführer fest im Griff, er selbst hat keinen der Morde ausgeführt, war nur beim LaBianca-Massaker anwesend, um zu inszenieren und dirigieren. Den Rest erledigte seine Mörderbande.

Ein Lied für die Beach Boys


Dabei wollte der Sohn einer drogenabhängigen Prostituierten eigentlich Musiker werden, schrieb sogar ein Lied für die Beach Boys. Nicht einverstanden war Manson aber damit, wie Schlagzeuger Dennis Wilson das Lied veränderte. Auch die von Wilson eingefädelte Bekanntschaft mit dem Musikproduzenten Terry Melcher, Sohn von Doris Day, stand unter keinem guten Stern. Manson erhoffte sich einen Plattenvertrag, den er nie bekam. Und das Unheil nahm seinen Lauf: Jene Villa, in der Sharon Tate ermordet wurde, gehörte zuvor Melcher. Als Manson seine Schergen ausschickte, fanden sie nur die neuen Bewohner des Hauses vor. Diese agierten gemäß ihrem Auftrag, der da lautete: „Helter Skelter“ – ein Liedtitel der Beatles, der eigentlich eine Rutsche in einem Vergnügungspark bezeichnet.

Manson, der in den Pilzköpfen „die vier Engel der Apokalypse“ sah, sah jedoch darin den Aufruf, Unruhe zu stiften. Umgelegt auf die Wahnwelt des Sektengurus hieß dies, seine Vision vom Rassenkrieg zu verwirklichen, der seiner Vorstellung nach 1969 hätte eintreten sollen. Doch diese Vision wurde nie Wirklichkeit. So sah sich Manson gezwungen, mithilfe seiner „Family“, mit der er auf einer Ranch lebte und Drogen in rauen Mengen konsumierte, nachzuhelfen. Sein Kalkül: Die bestialischen Morde an reichen Weißen würden früher oder später der Black-Panther-Bewegung angelastet werden. Drei Monate nach den Morden verhaftete die Polizei den Sektenguru und seine Jünger wegen Autodiebstahls. Susan Atkins, Mörderin von Sharon Tate, prahlte im Gefängnis mit der Tat. Erst da wurde den Behörden bewusst, welche mörderische Bande ihnen ins Netz gegangen war.