Er kommt aus Schlesien, dem geschichtsumtobten Eck in der Mitte Europas, aber er schreibt große, erschütternde, wort- und inhaltsgewaltige Weltliteratur – der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch. Und er hat bereits eine Reihe von großartigen Romanen über das Wesen des Krieges geschrieben: „Morphin“, „Drach“, „Demut“. Und in diesen Büchern – stets getragen von einer starken „Story“, in die das Tosen der Welt eingebettet ist – kämpfen die Menschen meist nicht nur gegen einen externen Feind, sondern vor allem mit sich selbst und den Verrohungen und Verbiesterungen, die in dunklen Zeiten besonders grell ans Tageslicht kommen. In diesem Kontext ist auch seiner neuer Roman „Kälte“ zu sehen, der die Umbrüche des 20. Jahrhunderts in düster schillernde Literatur verwandelt.

Die Rahmenhandlung: Ein Schriftsteller namens Szczepan Twardoch sucht das Weite in der Einsamkeit Spitzbergens, wo er auf eine betagte Weltreisende trifft, auf deren Yacht er sich weiter auf die Reise macht. Diese Frau drückt ihm eines Tages mit geheimnisvollen Andeutungen eine alte Ledermappe in die Hand. Sie enthält die Tagebücher eines gewissen Konrad Widuch. Und der erste Eintrag aus dem Jahr 1946 beginnt mit diesen Worten: „Ich – ein Mensch? War ich je Mensch?“

Was folgt, ist das buchstäblich mit Blut, Schweiß und Tränen verfasste Protokoll eines Mannes im Strudel der Zeit. Das Tagebuch spiegelt die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts in Europa wider; all die Kriege, Bruderkämpfe, Revolutionen, Umstürze, Grausamkeiten und mörderischen ideologischen Irrungen. In eine deutsche Bergwerksfamilie hineingeboren, bricht der junge Wilde bald die Brücken zum Elternhaus ab. Konrad Widuch dient in der preußischen Marine unter Wilhelm II, geht später nach Russland, um sich den Bolschewiken anzuschließen, wird später von Stalin in ein sibirisches Lager verfrachtet, von wo er schließlich flüchten kann. Unterschlupf und die Chance auf ein neues Leben findet er bei einem archaischen Naturvolk – doch es bleibt eine Flucht ohne Ende.

Mit „Kälte“ sind nicht nur die äußeren Temperaturen gemeint. Fröstelnd und verstörend auch die grausamen Schilderungen dessen, was Krieg, Verfolgung und der Kampf ums Überleben in einem Menschen anrichten. Und Twardoch macht auch kein Hehl daraus, wessen Machtgebrüll am lautesten ist: „Wenn Russland kommt, dann kann eine Siedlung allein sich nicht verteidigen, ihr bleibt nur die Flucht. Ihr seid so lange sicher, wie Russland nichts von euch weiß“, heißt es an einer Stelle.

Szczepan Twardoch geht übrigens nicht „nur“ mit Worten gegen den Krieg und seine großflächigen Verwüstungen vor, er ist auch ein Mann der Tat. Immer wieder fährt er über die Grenze in die Ukraine, wagt sich bis an die Schützengräben der Front vor – und liefert dort in Polen gekaufte Aufklärungsdrohen ab. Natürlich ein winziger Tropfen auf dem heißen Stein. Dennoch: Twardoch weiß, was passiert, wenn derjenige gewinnt, dessen Machtgebrüll alles andere übertönt.

Szczepan Twardoch. Kälte. Rowohlt Berlin, 428 Seiten, 26,80 Euro.

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