Die erste halbe Stunde hat es in sich. Linke Umweltaktivisten demonstrieren vor dem Firmensitz eines Müllentsorgers als sie von einer Gruppe rechter Krawallmacher aufgemischt werden. Junge Wut auf beiden Seiten, ein Polizist gerät zwischen die Fronten, das Protestcamp fällt auseinander, ein „Späti“ wird ausgeraubt und ein Polizeiwagen erinnert an einen zappelnden Käfer am Rücken. Mittendrin die friedliche Schülerin Luise (Lea Drinda, „Kinder vom Bahnhof Zoo“), die nicht zögert, in einen Abgrund zu steigen, der ihr die Zukunft bedeutet – auch wenn sie damit ihr Elitestipendium riskiert.

Der Titel „Wer wir sind“ findet seine Referenz nicht in einem geschlossenen Kollektiv. Niemand kann in der von Serien-Schöpfer Marianne Wendt und Christian Schiller entwickelten Geschichte ernsthaft behaupten, seinen Platz gefunden zu haben: Luises von Franziska Weisz (noch „Tatort“-Kommissarin) dargestellte Mutter steht vor dem nächsten großen Schritt ihrer Karriere als Kommissarin und privat einen kleinen Schritt vor dem Abgrund. Ihr betrogener Mann (Shenja Lacher) agiert in ähnlichem Umfeld: Als Sozialarbeiter betreut er die Wohngemeinschaft des notorisch falsch abbiegenden Dennis (Florian Geißelmann), dessen Mutter just mit einem der rechten Hooligans liiert ist, die das Protestcamp gestürmt hatten. Der dramaturgische Kreis schließt sich lückenlos, ein bisschen mehr Freiraum im Drehbuch hätte womöglich gutgetan.

Im Kern erzählt die Geschichte von bemühter Kontrolle und ihrem gnadenlosen Verlust. Die Konfrontation vollzieht sich entlang der vertrauten Demarkationslinien. Die Mutter mahnt Luise eindringlich und in der Sprache der Supervisionsrunden in ihrer Polizeidienststelle: „Wir müssen hier differenziert bleiben.“ Beim Nachwuchs kommt das weniger gut an: „Ich hasse dich“, antwortet Luise lapidar. Die entzweiende Kraft der Krise entfaltet in der Zwischenmenschlichkeit der Kernfamilie ebenso ihre Wirkung wie auf den Makroebenen der Gesellschaft, wenn Gruppen die Fäuste sprechen lassen.

Miniserien wie „Wie wir sind“ haben im Streamingzeitalter Hochkonjunktur: Konsumierbar in Einzelfolgen oder auf einmal sind sie ideal für das individuelle nonlineare Sehverhalten. Klassische Fernsehsender tun sich hingegen oft schwer, häufig enttäuschen die Einschaltquoten. Den Gegenbeweis lieferte die Alpen-Saga „Schnee“ am Montag: Mehr als 400.000 Menschen sahen die ersten Folgen in ORF 1. ●●●●○