Von 1990 bis 1995 war ich, unter der Intendanz von Horst Gerhard Haberl, Mitglied des Beirats im steirischen herbst, dem damals noch sogenannten „Avantgardefestival“. Dabei kam mir, zusammen mit meinem Freund Werner Krause, die Rolle eines Konzeptentwicklers zu, die ich nach Kräften auszufüllen suchte. Als Quereinsteiger in die öffentlich geförderte Kunstszene machte ich gleich auf der ersten Pressekonferenz meinen ersten kapitalen Fehler. Ich sagte die Wahrheit.

Man solle, sagte ich, mit dem Avantgardegerede und einem dümmlichen Provokationsmodell aufhören, denn dieses sei bloß noch historisches Zitat. Stattdessen möge man den steirischen herbst als die einmal jährliche Ambition verstehen, Zeitgenossenschaft zu demonstrieren, indem man versuche, das Zeitgemäße der Gegenwartskunst an schlagenden Beispielen zu präsentieren. Seither schworen sich die Medien auf die Formel ein, der steirische herbst sei in die Jahre gekommen. Das war gar nicht gut.

"Nomadologie der Neunziger"

In der Folge nahm man uns sogar übel, dass wir den Begriff des Kunstnomaden verwendeten, indem wir eine „Nomadologie der Neunziger“ proklamierten. In einer schicken Kultursendung des ORF wurde ich gefragt, warum ich das schicke Wort „Nomade“ statt den schlichten Begriff des „Zigeuners“ verwendete - eine Frage, die sich, unter dem Vorzeichen der Political Correctness, wohl erübrigen würde. Dabei stand hinter dem Konzept des Nomadischen in der Kunst eine Diagnose, von der ich meine, dass sie auch heute für den steirischen herbst von Belang ist.

Die klassische Avantgarde hatte sich eine Aura zunutze gemacht, die aus dem ursprünglich religiösen Bereich ausgewandert war. Sie bewirkte eine Art „Sakralisierung“ des Ästhetischen. Selbst einer im Museum exponierten Kloschüssel nahte man sich ehrfürchtig, nicht ohne Berührungsscheu. Allerdings hatte der aggressive Umgang der Spätavantgardisten mit den tradierten bürgerlichen Werten, mit dem Wahren, Guten und Schönen, endlich den Verlust der Aura zur Folge. Damit wurde die Frage akut: Wozu Kunst?

Und die Antworten darauf fielen „nomadisierend“ aus. Die Künstler verließen das Kunstterrain, um Kunst zu machen. Damals, während der Nomadologie der Neunziger, konnte man, einander überlappend, drei Tendenzen orten. Es gab den „engagierten“ Künstler, der seine Energie darauf verwendete, politische „Statements“ zu setzen oder gleich Sozialprojekte zu initiieren. Dann gab es den Metakünstler, der Kunst machte, indem seine Projekte Kommentare zur Kunst waren, oft rätselhaft, stets aber erfüllt von dem paradoxen Bedürfnis, die Leere und Belanglosigkeit der Kunst durch „Reflexion“ zu ersetzen.

Vor einem Dritteljahrhundert

Schließlich gab es eine Fraktion, die in bestimmter Weise „reaktionär“ agierte. Denn sie wollte, mit einem Mix aus Hypermoderne und Archaik, der Kunst ihre Aura zurückerobern. Botho Strauß beispielsweise entdeckte die christliche Gnosis vermischt mit allerlei antiken Chimären und postmodernen Nachtmahren, während Hermann Nitsch in Unmengen von Blut und Gedärm, streng choreografiert, nach dem Absoluten suchte.

Das alles ist fast ein Dritteljahrhundert her. Mittlerweile wurde, in ferner Anknüpfung an Andy Warhols Kunstaura-Imitat aus Society, Glamour & Cash, viel Ironie in den Vordergrund gerückt. Nach Damien Hirsts diamantbepacktem Platinabguss eines Totenschädels - das Objekt erbrachte bei der Versteigerung 50 Millionen Pfund - bietet nun der Österreicher Erwin Wurm heiter-verblüffende „Eyecatcher“, die von den internationalen Galeristen in hoch bezahlte Kunstobjekte transformiert werden. Wurm ist zurzeit auf der Biennale in Venedig mit einem kopfstehenden Lastwagen samt inwendiger Besuchertreppe zu sehen; wer sie erklimmt, den erwartet die Botschaft: „Still stehen und über das Mittelmeer schauen“, ein plakativer Kommentargag zu den plakativen Flüchtlingskrisenkommentaren rundum.

Wie also sollte sich ein mittelstädtisches Festival wie der steirische herbst angesichts der Großproduktionen in den Metropolen und des Gewimmels kleinerer „Events“ zur zeitgenössischen Kunst positionieren? Die dieses Jahr ihre Abschiedsprogrammierung vorlegende Intendantin hatte anfangs, 2006, eine - soweit mir nachvollziehbar - gewitzte Idee: Statt den großen Kunstmaschinen Konkurrenz zu machen, pflegte sie einen quirligen, schlauen, jungen Minimalismus. Viele Gruppen, viele Mitspieler, ein ganzer Flohzirkus an Ambitionen, die sich in mehr oder weniger bemerkbarer Weise künstlerisch entäußerten, begrifflich erfasst von mitlaufenden Programmen im Miniaturformat.

Doch alles hat seine Zeit, wie der Prediger sagt. Wenn ich an die Zukunft des steirischen herbstes denke, so denke ich daran, dass das „in die Jahre gekommene Festival“ ebenfalls seine Zeit hat. Und was könnte da dringlicher sein, als gegen die Verödung und Zerstörung der Umwelt alle Medien der Kunst zu mobilisieren, um unsere Lebensräume wieder leb- und erlebbar zu gestalten? Statt monumental oder minimalistisch, dekonstruktiv, ironisch oder plakativpolitisch müsste die öffentliche Kunst ernsthaft ökologisch zu denken beginnen, oder? Ich kenne keinen Grazer Platz, der es nicht verdiente, gestaltet zu werden, sodass die Menschen - und ich meine keineswegs typische Besucher von Kunstevents - dort gerne verweilen würden.

Und heute?

Es ist ja fremdenverkehrstechnisch in Ordnung, wenn in unserer Mur eine „Murinsel“ dümpelt; und nichts ist dagegen einzuwenden, dass das „Lichtschwert“, leider lichtlos, vor der Grazer Oper stehen gelassen wurde. Wichtiger wäre wohl, wenn sich Graz, die international beglaubigte City of Design, aufgrund der „Interventionen“ des steirischen herbstes nach und nach in eine Stadt verwandelte, deren Kunst darin bestünde, soziale Wohnlichkeit zu schaffen - statt primär ein Ort für Bauentwicklungsuntaten und lieblos-hektische Touristenhandys zu sein.

Warum keine Verweilkunst, und zwar mit aller gebetsmühlenartig geforderten Nachhaltigkeit? Wobei mir in den Sinn kommt, man sollte den Kunstschamanen Joseph Beuys posthum beim grünprophetischen Wort nehmen: Demnach ist nicht nur jeder Mensch ein Künstler (na ja), es wäre vor allem die Aufgabe der Kunst, die Menschen dort, wo sie zu Hause sind, auch zu beheimaten. Statt spießiger Heimat- freiräumige Beheimatungskunst! Das ist zunächst ein Slogan, aber vielleicht ein richtungsweisender.

Doch bitte, das sind krause Gedanken eines ewigen Grazers, welcher der scheidenden Intendantin, Veronica Kaup-Hasler, danken und der künftigen Intendanz viel Erfolg wünschen möchte.