Im April 2018 wurde Karl Lagerfeld gefragt, welchen der folgenden drei Designer er denn auf die berühmte einsame Insel mitnehmen würde: Simon Porte Jacquemus, Virgil Abloh oder Jonathan Anderson? Die knappe, aber doch sehr eindeutige Antwort des jahrzehntelangen Chanel-Chefs: „Lieber würde ich mich vorher umbringen.“
Lagerfeld ist das beste Beispiel, um den Unterschied zwischen den nachfolgenden Generationen – den er selbst am besten spürte – festzumachen.

Der im Februar verstorbene Designer absolvierte eine Schneiderlehre beim legendären Pierre Balmain, war ein begnadeter Zeichner und absolvierte die harte Schule der Modebranche. Dass im März 2018 ein Architekt und Bauingenieur aus Rockford, Illinois, zum Kreativchef der Männerlinie von Louis Vuitton ernannt wurde, war vermutlich nicht nur Lagerfeld ein bisschen sehr unheimlich. Zugegeben, es klingt auch ein ziemlich verrückt: ein völliger Mode-Autodidakt an der Spitze eines der berühmtesten Modehäuser der Welt.

Doch wie schafft es ein Architekt überhaupt bis dorthin? Indem man das richtige Gespür für Trends hat und die Regeln eines Metiers beherrscht: Streetstyle. Also Mode, die stark von der Sport- und Skaterszene beeinflusst ist. Abloh ist Teil einer ganzen Reihe von Leuten, die den Streetstyle zum Maß aller Dinge erhoben haben – mit viel Erfolg. Hochpreisige Marken wie Vetements, Supreme oder 1017 ALYX 9SM haben seit vielen Jahren bei einer jungen Generation nicht nur Kultstatus erlangt, sondern auch die dazugehörige Käuferschaft an Land gezogen. Was viele Jahre vor allem bei der Jugend gefehlt hat, ist seit ein paar Jahren als Trend wieder voll zurück: die Markenkleidung.

Noch einmal ein Rückgriff auf Lagerfeld: Seine Kooperation mit H&M war 2004 eine Revolution in der Modebranche. Die Stoßrichtung: Design, das von oben nach unten gereicht wurde, also von der Spitzenklasse in den Mainstream. Virgil Abloh und Konsorten schaffen genau das Gegenteil: Streetfashion, also die „Montur der Straße“, sickert in die High Fashion ein. Einer, der diese Entwicklung vor allen anderen erkannt hat, ist Bernard Arnault, Chef eines der mächtigsten Luxusgüterkonzerne der Welt: LVMH. Dazu gehören Marken wie Hermes, Fendi und neuerdings auch Stella McCartney. Letztere hat Arnault nicht umsonst in seinen Konzern eingegliedert: McCartney steht wie keine andere für Nachhaltigkeit im Luxussegment, das für gewöhnlich mit Klimaprotesten nicht so viel am Hut hat. Mit ihr hat LVMH ein perfektes Nachhaltigkeits-Aushängeschild geschaffen.

Chef von LVMH: Bernard Arnault
Chef von LVMH: Bernard Arnault © (c) APA/AFP/NICHOLAS KAMM

Zurück zu Abloh: 2012 gründete er sein erstes Label namens „Pyrex Vision“. Er bedruckte Shirts, Hoodies, Socken und Hemden mit Renaissancegemälden, versah sie mit der Zahl 23, eine Hommage an Basketballer Michael Jordan. Sein Konzept: Nimm ein bisschen was von da und ein bisschen was von dort und mache etwas Neues daraus. Das haben schon viele vor ihm gemacht, aber seine Mischung enthält noch eine Art Zauberpulver – er lernte den Rapper Kanye West kennen. Von nun an ging es vor allem in eine Richtung: steil bergauf. Er gründete sein Label „Off White“, das seinen Hauptsitz in Mailand hat, 2018 folgte zusätzlich Louis Vuitton.

Auch Hailey Baldwin hat bei ihrer Hochzeit mit Justin Bieber ein "Off White"-Kleid getragen

Der 39-Jährige ist weniger Designer, denn Kurator. Wie im Streetstyle üblich, sind Kooperationen mit anderen Marken das Maß aller Dinge – eine sehr moderne Interpretation von Haute Couture: Limitierte Editionen sorgen für eine Verknappung und dafür, dass das Begehren exponentiell zur geringen Anzahl steigt. Seine Kunden und Fans, von Stars wie Rihanna, Beyoncé oder Timothée Chalamet abgesehen, sind vor allem auf Instagram daheim. Dort bespielt er, der auch als DJ für volle Häuser sorgt, all jene, die immer neue Trends, immer neue Bilder brauchen. Und keiner beliefert diese Maschine so gut wie er.

Das zahlt sich aus: Er kooperiert mit Konzernen wie Nike, mit Musikern wie A$ap Rocky, mit Möbelherstellern wie Vitra und Ikea. Beim Aufzählen könnte einem glatt schwindelig werden. Dass der schwedische Möbelhersteller nach 2018 neuerlich mit Abloh zusammenarbeitet, ist ein kluger Schachzug der Schweden. Schon jetzt wird die Verknappung angekündigt: Pro Person gibt es ab 7. November nur eine begrenzte Anzahl an Produkten der „Markerad“-Kollektion zu kaufen. Dass man überhaupt so weit kommt, sich eines auszusuchen, ist ohnehin fraglich.

Der Großteil der Ikea-Kunden hat sich vermutlich bis jetzt gefragt: Virgil, wer? Das macht nichts, der Sohn ghanaischer Migranten soll eine junge Käuferschicht ansprechen. Die Idee beruht auf einem uralten Prinzip: Ein Hauch von Glanz des Klassenprimus soll auf einen abfärben. Und das funktioniert, darauf können Sie einen Elch verwetten.

Tasche der „Markerad“-Kollektion von Virgil Abloh für Ikea
Tasche der „Markerad“-Kollektion von Virgil Abloh für Ikea © Ikea