Der Körper mag malad sein. Doch wenn die 74-jährige Marianne Faithfull die Gedichte der britischen Romantiker wie Lord Byron, John Keats oder Lord Alfred Tennyson vorliest, zieht sie die Zuhörenden mit ihrer einmalig tiefen und von allerlei Lebensspuren gegerbten Stimme tief in ihren Bann. Exakt dieses Album, sagt Faithfull, habe sie bereits ihr ganzes Leben lang aufnehmen wollen. Die zurückhaltende Musikbegleitung auf diesem intensiven und romantisch-melancholischen Hörereignis stammt einmal mehr von Faithfulls regelmäßigem Mitstreiter Warren Ellis (53), dem Multiinstrumentalisten in der Band von Nick Cave, den Bad Seeds. Wir sprachen mit Marianne Faithfull, die nach Jahren in Paris nun wieder in London lebt, um nah bei ihrem Sohn Nicholas und den drei Enkelkindern zu sein, am Telefon.

Sie waren im vergangenen Sommer schwer an Corona erkrankt und rangen mit dem Tod. Wie geht es Ihnen heute?
Marianne Faithfull: Es geht mir besser. Das Virus hat mich nicht besiegt. Aber es war eine knappe Geschichte. Sie müssen übrigens entschuldigen, dass wir nicht sehr lange sprechen können. Für eine richtig lange Unterhaltung habe ich noch nicht wieder die Konstitution.

Bevor wir auf das neue Album „She Walks In Beauty“ zu sprechen kommen, noch die Frage, wie gut Sie sich an die Wochen im Krankenhaus erinnern können.
Marianne Faithfull: Glücklicherweise fehlt mir größtenteils die Erinnerung an die Zeit, in der mein Leben wirklich auf der Kippe stand. Das ist fast schon eine Gnade und gewissermaßen die positive Folge des künstlichen Komas, in dem ich lag. Ich befand mich an einem wirklich dunklen Ort. Und leider ist es noch nicht vorbei. Ich muss immer noch mit erheblichen Einschränkungen leben. Mein Kurzzeitgedächtnis macht mir nach wie vor Schwierigkeiten, meine Lungen sind noch geschwächt und ich bekomme noch nicht so gut Luft. Alles strengt mich viel mehr an als früher, insbesondere das Sprechen. Aber Darling, ich will nicht klagen. Dafür ist doch unsere Zeit zu schade.

Werden Sie wieder singen können?
Marianne Faithfull: Das ist die große, spannende Frage. Ich weiß es nicht. Ich arbeite daran. Im Moment ist es mir noch nicht wieder möglich zu singen. Doch ich übe mehrmals die Woche. Ein guter Freund trainiert mich. Tatsächlich empfehlen die Ärzte allen Covid-19-Patienten, nicht nur mir, zu singen. Das ist ideal, um wieder Kraft in die Lungen zu bekommen.

Sie haben bisher schon so einiges überlebt: Ihre Heroinsucht in den Siebzigern, Hepatitis C, Brustkrebs, vor drei Jahren eine gebrochene Hüfte, die sich entzündet hat, und jetzt auch noch Corona. Sind Sie eigentlich unzerstörbar?
Marianne Faithfull: Das wäre eine schöne Sache. Aber nein, das bin ich nicht. Ich hatte bislang immer sehr viel Glück. Aber warum ich überlebe und andere Menschen sterben? Warum überhaupt Menschen sterben? Ich kann die Frage nicht beantworten. Mein langjähriger Produzent und guter Freunde Hal Willner hat es nicht geschafft. Er ist an Corona gestorben, mit 64. Es ist schrecklich. Ich bin einfach dankbar, noch am Leben zu sein.

Sie sagen, „She Walks In Beauty“ sei für Sie die Erfüllung eines Lebenstraums.
Marianne Faithfull: Ja, das ist wirklich so. Mein Leben hat sich immer genau auf ein Album wie dieses zubewegt. Die Poesie verfolgt und fasziniert mich schon seit sehr, sehr langer Zeit.

Wann haben Sie angefangen, sich für die englischen Dichter des 19. Jahrhunderts zu begeistern?
Marianne Faithfull: Schon als Mädchen. In der Schule. Ich hatte eine fantastische Lehrerin, die mich so etwa mit 12 oder 13 unendlich für diese Kunst begeistern konnte. Eigentlich wollte ich nach der Schule sogar in London Englische Literatur studieren, ich hatte das Fach als Leistungskurs. Mit 17 beendete ich jedoch die Schule. Mir war etwas dazwischengekommen – die Karriere.

Andrew Loog Oldham, der Manager der Rolling Stones, entdeckte Sie auf einer Party. Sie hatten mit 17 den Welthit „As Tears Go By“, bekamen bald schon Ihren Sohn Nicholas und wurden nach der Trennung von Ihrem Mann John Dunbar die Geliebte von Mick Jagger.
Marianne Faithfull: So hat es sich zugetragen, ja. Das Schicksal hatte etwas anderes mit mir im Sinn als ein Literaturstudium. Ich denke, alles in allem habe ich durch das Leben mehr gelernt, als ich es bei einem Studium hätte tun können. Und die Literatur verschwindet ja nicht, sie ist für alle Zeiten hier und hat mich durch mein Leben begleitet. Ich bin viel ins Theater gegangen und las Bücher, wann auch immer ich dazu kam.

Marianne Faithfull und Mick Jagger im Jahr 1969
Marianne Faithfull und Mick Jagger im Jahr 1969 © (c) imago stock&people (imago stock&people)

Ihr neues Album ist sehr ruhig, geradezu meditativ. Wann haben Sie und Warren Ellis entschieden, das Projekt „She Walks in Beauty“ anzugehen?
Marianne Faithfull: Warren und ich sind seit fünfzehn Jahren eng befreundet, wir tauschen uns regelmäßig aus. Er lebt in Paris, früher konnten wir uns abends besuchen, seit ich in London bin, tauschen wir uns über Computer und Telefon aus. Glücklicherweise schafften wir es noch, sieben oder acht Gedichte aufzunehmen, bevor ich krank wurde. Als es mir wieder besser ging, haben wir noch ein paar Stücke überarbeitet und vollendet. Vielleicht findet diese Platte gerade in eher stillen Zeiten wie diesen ein Publikum. Ich kann so etwas immer nur sehr schlecht einschätzen.

Sie sind also keine Künstlerin, die vor Selbstvertrauen strotzt?
Marianne Faithfull: Nein, so eine Person war ich nie. Ich habe mir immer einen Rest Unsicherheit bewahrt. Menschen, die denken, dass alles, was sie tun, brillant ist, berühren mich nicht. Denn niemand leistet ununterbrochen fantastische Arbeit. Ich selbst übrigens am allerwenigsten.

Und doch sind Sie, mit kurzen Unterbrechungen, seit weit über 50 Jahren als Musikerin aktiv.
Marianne Faithfull: Ich bin extrem froh darüber, dass ich die Kunst in den Mittelpunkt meines Lebens gestellt habe. Ich denke, das war die richtige Entscheidung.