Wir blicken hier auf die Eremitage in St. Petersburg. Wieso findet das Interview in Russland statt?
Till Lindemann: Wir haben gerade zwei Musikvideos für das neue Album gedreht.
Peter Tägtgren: Momentan haben wir das Problem, dass wir das viele Videomaterial irgendwie unterbringen müssen. Wir haben regelrechte Kinofilme gedreht. Die Songs sind dafür viel zu kurz (lacht).

Was verbinden Sie mit dem Land? Herr Lindemann, Sie konnten Russisch sprechen, bevor Sie Englisch sprachen?
Lindemann: Ja. Ich komme aus der DDR und bin mit russischer Kultur aufgewachsen. Die Hälfte meines Lebens geschah mit und um Russland. Damals waren noch Breschnew und Honecker mit ihrem Bruderkuss am Start. Das habe ich alles infiltriert. Filme, Lieder. Ich war erst kürzlich hier in St. Petersburg in den Lenfilm Studios. Das ist vom Stellenwert her mit den Babelsberger Studios in Berlin zu vergleichen. An den Wänden waren unzählige Filmplakate. Da habe ich sicher mehr als die Hälfte gekannt. Und natürlich bin ich mit russischem Essen bestens vertraut!

Bitte um eine Empfehlung!
Lindemann: Soljanka ist einwandfrei. Pelmeni würde ich auf jeden Fall probieren. Und Beef Stroganoff ist besonders in St. Petersburg sehr gut. Ich glaube, die haben das hier erfunden. Verlass dich während deines Aufenthalts einfach auf die russische Küche!

Herr Tägtgren, sprechen Sie mittlerweile so gut Deutsch, dass Herr Lindemann ohne schlechtes Gewissen in seiner Muttersprache singen kann? Schließlich war die erste CD noch auf Englisch.
Tägtgren: Stimmt. Ich werde immer besser. Aufgewachsen bin ich zwischen einem deutschen und einem österreichischen Nachbarn. Meine Frau ist aus Deutschland. Außerdem entstand die Hälfte unseres neuen Albums in Zusammenhang mit einer deutschen Theaterproduktion. Die Lieder waren am Ende so gut, die wollten wir einfach nicht nur dem Theater überlassen.
Lindemann: Meine Tochter arbeitete als Dramaturgin an diesem Stück „Hänsel und Gretel“. Der Regisseur hat mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, mich um die Musik zu kümmern. Da musste ich natürlich Peter fragen, ob er mir hilft.

© (c) Jens Koch (Jens Koch)

Das neue Album „F&M“ ist also, anders als das Partyalbum „Skills in Pills“, ein dramaturgisch zusammenhängendes Werk?
Tägtgren: „Skills in Pills“ war Billy Idol auf Speed. Die neue Platte ist vielschichtiger. Da gibt es sogar einen Tango und Hip-Hop. Wir wollten uns selbst testen, sehen, was wir schreiben können.
Lindemann: Die Songs entstanden als eine Art „Music on demand“ und wurden zu einzelnen Szenen komponiert. Zum Beispiel „Schlaf ein“, ein Wiegenlied. Oder „Gummi“, denn die Gretel aus dem Stück meiner Tochter hat einen Gummitick. „Ach so gern“ wiederum dreht sich um eine Vergewaltigungsszene. Der Protagonist im Song redet sich seine Gewalttaten schön. Manche Frauen haben „Nein“ gesagt, aber am Ende waren sie seiner Meinung nach ohnehin alle glücklich.

Sie werden also in Zukunft als Theaterkomponisten Ihr Geld verdienen?
Lindemann: Nein. Ein bisschen Spaß hat es gemacht. Wegen der Tochter. Aber es frisst Zeit und Energie.

„F&M“ scheint ein Werk der Gegensätze zu sein. „Frau und Mann“, „Steh auf“, „Schlaf ein“ ...
Lindemann: Gegensätze braucht es im Leben. Plus und Minus, Frau und Mann. Das bedeutet immer einen großen Spagat und stellt den Menschen vor Herausforderungen – aber das eine bedingt das andere.

Herr Lindemann, ich stoße in Ihren Texten vermehrt auf neurotische Menschen. Ein Zufall?
Lindemann: Das kann ich nachvollziehen. Aber ich kann nicht beurteilen, ob ich das selbst bin.

Ich weiß, Sie erklären Ihre Texte ungern.
Lindemann: Ja, weil so jeder seine eigene Geschichte in meinen Texten finden kann. „Steh auf“ interpretierte eine Journalistin vor Kurzem als ein untypisch fröhliches Lied (lacht). „Heute ist ein schöner Tag, am Himmel fliegen bunte Drachen“, heißt es im Text. Tatsächlich hat mich der Drogentod von Peaches Geldof zu diesem Song inspiriert. Was in den Polizeiakten nämlich nicht erwähnt wurde: Ihr Kind wartete vermutlich stundenlang neben seiner toten Mutter darauf, dass sie endlich aufwacht. Der Song beschreibt dieses Warten. Dieses Trauma ist unvorstellbar. Schrecklich.


Die großen Schockmomente fehlen diesmal dennoch weitestgehend. Kann man als Musiker seine Hörer heutzutage überhaupt noch schocken?
Lindemann: Das braucht man heute nicht mehr. Ich muss eigentlich nur die Nachrichten schauen. Das liefert mir dauernd Stoff.
Tägtgren: Das wird immer schwieriger, ja. Es fühlt sich an, als wäre alles schon einmal passiert. Wir sind nicht gekommen, um zu schockieren. Das überlassen wir der Realität. Keine Ahnung, warum in unserer Gesellschaft so eine Unzufriedenheit herrscht.


Trauen Sie sich mit diesen Songs auf die Bühne? Oder bleibt Lindemann, anders als Rammstein, ein Studioprojekt?
Lindemann: Nein, wir werden touren. Von Februar bis März.
Tägtgren: Wir haben in Russland schon Testkonzerte gespielt. Vor wenigen Zuschauern. Die Tour wird im kleinen Rahmen stattfinden. Back to the roots. Clubs ohne Backstage.