Es ist in Klassiker: Wenn im Musikbusiness irgendwo der Begriff Wunderkind auftaucht, folgt automatisiert der Klapperschlangen-Effekt: Alle schreien wohlig erschaudert auf und keiner kann sich der Anziehungskraft entziehen. Meistens ist es aber oft nicht mehr als ein Phantasma, ein Trugbild, das nicht das hält, was man sich gemeinhin so von einem Wunder wünscht. Bei Billie Eilish könnte das anders sein, bereits in der Probephase der Wunderprüfung stellt sie sich mehr als passabel an. Schon vor ihrem Debütalbum „When We All Fall Asleep, Where Do We Go?“, Ende März erschienen, hat sie mit mehreren Singles für Schnappatmung gesorgt. Das Album selbst klingt wie eine gut kuratierte Playlist und passt genau zum Trend: Immer weniger Musikkonsumenten hören ein ganzes Album.



Vielfalt ist bei der 17-Jährigen selbst auferlegte Pflicht: „Das Einzige, was sich an mir niemals ändern wird, ist, dass ich mich ständig ändern werde“, beschreibt sie sich selbst in einer Vevo-Kurzdoku. Und so tingelt sie am Album durch die Up and Downs ihrer Gefühlswelt. Von härter („You Should See Me in a Crown“) über putzigst („8“) bis hin zu sehr zart („I Love You“). Alles eingebettet in die Eilish-Lebenswelt, in der mehr Monster denn zarte Elfen wohnen.

Pop, der weder zuckersüß noch rund abgeschliffen ist: „Ich möchte nicht davor beschützt werden, zu scheitern.“ Wieder so ein Eilish-Satz, der nicht nur prominenten Fans wie Dave Grohl die Freudentränen in die Augen treibt, denn er sieht in ihr ein Grundrauschen, das mehr ist als nur Theaterdonner: Rebellion. Im Vergleich zu Pop-Elfen wie Ariana Grande und Taylor Swift ist das ein mehr als richtiger Befund. „My Lucifer is lonely“, lautet eine Textzeile im Song „All the Good Girls Go to Hell“ – ein Satz, perfekt für ein Gesichtstattoo.


Auch sonst ist die Erzählung hinter Billie Eilish Pirate Baird O’Connell fast zu gut, um wahr zu sein: Aufgewachsen in Kalifornien, beide Eltern Schauspieler, unterrichtet wurde sie daheim mit ihrem Bruder Finneas O’Connell. Der ist nicht nur Musiker und Schauspieler, sondern auch maßgeblich am Erfolg seiner Schwester beteiligt. Zwar ist Musik für sie gerade ihr wichtigster Job, aber nicht das Nonplusultra, wie sie in ihrer Kurzdoku erklärt: „Ich möchte nicht über einen einzelnen Song oder einen bestimmten Sound definiert werden. Ich möchte ein Auto designen, einen Film drehen, ich möchte eine Modemarke haben“ – das klingt zwar weniger nach einem Wunder, aber nach einem gut durchdachten Plan.

Sigrid Raabe
Sigrid Raabe © Universal/Francesca Allen

Sigrid Raabe

Sommer, Sonne, easy going – das ist so ziemlich genau das Gegenteil davon, wie die Welt von Sigrid Raabe für gewöhnlich ausschaut, denn die 22-Jährige ist Norwegerin. Geboren in Ålesund, ist sie vor ein paar Jahren nach Bergen gezogen – eine Stadt, die besonders gerne als Setting von Krimis herhalten muss. Doch Sigrid trägt die Sonne im Herzen, auch wenn man in Norwegen traditionell auf Black Metal schwört, ist ihre musikalische Heimat Pop. Der erste Impact im Musikuniversum gelang ihr mit „Don’t Kill My Vibe“. Die Startrampe für den Aufstieg legte ihr jemand anderes: Tellef Raabe, ihr Bruder. Der ist ebenso Musiker und offerierte ihr einen Platz auf der Bühne – unter einer Bedingung: Das Lied soll sie gefälligst selbst schreiben.
Das Projekt Sigrid ist seither so etwas wie ein Selbstläufer, gepusht durch einen Raketenantrieb: „BBC Music Sound Of 2018“-Gewinnerin. Ein Ritterschlag im Popbusiness. Es folgten Auftritte unter anderem beim Konzert des Friedens-Nobelpreises 2017, bei den Shows von Jimmy Fallon und James Cordon. Am Weltfrauentag folgte ihr Debütalbum „Sucker Punch“.



Und es zeigt, dass Skandinavier offenbar das richtige Gespür für Pop haben: Der gleichnamige Opener „Sucker Punch“ kommt zunächst geschmeidig daher, aber haut einen den Refrain nach allen Regeln der Popkunst um die Ohren. Das heitere „Don’t Feel Like Crying“ wäre ein klarer Podestsong für den Songcontest, während die Ballade „Dynamite“ zwar melancholisch, aber klar und packend wie norwegische Winterluft ist.

„Es gibt Balladen, Lieder über Freundschaft, es gibt Songs über das Gefühl, verliebt zu sein, aber auch Songs über das Arbeiten. Das generelle Thema ist: ,es gibt kein Thema‘. Pop als Genre ist so breit gefächert, dass ich so viel Freiheit und Platz dafür hatte, das zu machen, was ich wollte“, beschreibt sie den Entstehungsprozess des Albums für ihre Plattenfirma. Sigrid als Powerfrau zu bezeichnen, würde vielleicht nicht den richtigen Ton treffen, aber das Wort Power im Sinne eines Energieträgers schon: Die 22-Jährige verfügt über eine Präsenz, die man im Popuniversum selten findet. Denn eines wird man in ihrem Umfeld nie sehen: Glamour und Klimbim. Ein Pop-Konzept, das auf den ersten Blick wie ein Widerspruch klingt. Wer die Norwegerin in ihrem natürlichen Habitat, dem Popsong, sieht, ist ob ihrer Natürlichkeit auf den ersten Blick verblüfft. Ein Schlag, wie ein gutes Black-Metal-Gitarren-Riff: Da kriegt man Gänsehaut und das ganz ohne Krimi.