Das waren noch Zeiten, als Udo Jürgens am Klavier sitzend oder Nicole mit weißer Gitarre auf einem Barhocker den Grand Prix Eurovision gewonnen haben. „Nur“ mit einem guten Lied und Charisma. Das Live-Orchester gibt es zum Bedauern vieler ESC-Fans schon seit 1999 nicht mehr, seit 2021 dürfen sogar die Backgroundchöre aus der Konserve kommen. Anfang der 1990er-Jahre war noch die Windmaschine das Auffälligste an technischem Show-„Zuckerln“ für einen Auftritt, Trickkleider wurden auch gerne beim ESC eingesetzt, seit Ende der 1990er-Jahre infiltrierte die Spaß-Guerilla das Wettsingen. Heute fallen viele Songs aber bloß durch inszenatorischen Bombast und Bühneneffekte auf. Das kommt mitunter wie aus einem Videoclip und nicht wie bei einer Live-Performance auf den Bildschirm.

Seit der Öffnung des Ostens ist die Teilnehmerzahl so gewachsen, dass ein Halbfinale eingeführt werden musste. 2004 bis 2007 reichte ein Semifinale, seit 2008 werden zwei Seminfinali ausgetragen. 26 Länder haben im Finale Platz, darunter als Fixstarter das Gastgeberland und die fünf größten Beitragszahler der Eurovision (Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien).

Österreichs Vertreterin Kaleen muss am kommenden Donnerstag durch das zweite Halbfinale, dort zählt seit letztem Jahr nur das Televoting. Fünf Fachjuroren aus der Musikbranche in jedem Land kommen als Punkterichter erst im Finale zum Einsatz und haben dort dann zu 50 Prozent das Sagen über Glück oder Leid. Insgesamt werden heuer 37 Länderwertungen abgerufen.

Nach langer Pause ist Luxemburg zurück beim Wettsingen. Vor seinem Rückzug 1993 aus der ESC-Welt (offiziell aus Kostengründen) hatte das Großherzogtum fünf Mal gewonnen. Beachtlich! „Poupée de cire, poupée de son“ von France Gall (1965) und Vicky Leandros „Après toi“ (1972) wurden zu Evergreens. Für das Comeback wurde das französisch-englische Lied der Sängerin Tali mit israelisch-peruanischen Wurzeln ausgewählt.

Apropos Kosten: Einigen kleinen Ländern ist die Teilnahme zu teuer geworden, so fehlen heuer Bulgarien, Nordmazedonien und Montenegro. Die Türkei und Ungarn zeigen schon länger kein Interesse; Entscheidungen, die mit der LGBT-freundlichen Haltung des ESC zu tun haben.

Nemo könnte für die Schweiz mit „The Code“ den 68. Song Contest gewinnen
Nemo könnte für die Schweiz mit „The Code“ den 68. Song Contest gewinnen © EBU

Nichts geändert hat sich an der Regel, dass pro Beitrag maximal sechs Personen auf der Bühne stehen dürfen. Marie-Sophie Kreissl alias Kaleen hat bei „We Will Rave“ vier Tänzer und eine fürs Publikum unsichtbare Zweitsängerin aus Schweden, die die Stimme der Oberösterreicherin unterstützt. Den Sieg konnten wir zweimal holen: 1966 mit Udo Jürgens (im dritten Anlauf übrigens) und 2014 mit Conchita Wurst. Unter die ersten Fünf kamen Cesár Sampson, Waterloo & Robinson und Thomas Forstner.

Die heurigen Favoriten

Als Gastgeberstadt 2025 deutet vieles auf Zürich oder Zagreb. Denn Nemo aus der Schweiz und Baby Lasagna aus Kroatien liefern sich bei den Buchmachern ein Kopf-an-Kopf-Rennen. In Nemos originellem Stilmix „The Code“ geht es um Selbstfindung einer non-binären Persönlichkeit, dass Brechen des gesellschaftlichen Codes. „Rim Tim Tagi Dim“ des Kroaten atmet den rockigen Einfluss von Rammstein und beschreibt in der Landessprache den Zwiespalt zwischen dem Bleiben in der Heimat und dem Fortgehen.

Lachende Dritte mit einem „Douze Points“-Regen könnte die Italienerin Angelinga Mango sein – energetisch, sexy und selbstbewusst. Wobei Italien den ESC ja erst 2022 ausgetragen hat. Israels Beitrag wurde erst nach textlichen Änderungen genehmigt, die erste Version war den Veranstaltern zu politisch, da sie sich ihnen zu stark auf den Oktober 2023 bezog.

Die Teilnahme – Stichwort: Aserbaidschan, Israel – richtet sich nicht nach der geografischen Lage in Europa (daher ist auch das immer wieder verwendete European Song Contest falsch), sondern nach der Mitgliedschaft in der Rundfunkunion EBU. Australien ist Ehrenmitglied und gab sein ESC-Debüt 2015 in Wien.

Baby Lasagna aus Kroatien: Holt er den ESC nach Zagreb?
Baby Lasagna aus Kroatien: Holt er den ESC nach Zagreb? © EBU

Streng geheim hält das schwedische Fernsehen, wie beim Finale das Jubiläum von ABBA gefeiert wird. 50 Jahre ist nun schon der Triumph des Quartetts mit „Waterloo“ her. Von einem erhöhtem Polizei-Aufkommen ist im Alltag der 345.000 Einwohner großen Stadt allerdings noch nicht viel zu bemerken; das wird sich morgen ab der ersten Live-Übertragung in die Welt (geschätzte Zuschauer: mehr als 150 Millionen) ändern. Die Terrorwarnstufe steht auf vier – bei einer Skala von fünf. Für die Sicherheit werden Polizeikräfte aus Norwegen und Dänemark hinzugezogen.

Die Performance von Nemo könnte den ESC nach Zürich bringen
Die Performance von Nemo könnte den ESC nach Zürich bringen © EBU