Der Ärmel bis zum Schulterende hochgeschoben, der Arm nackt, meist haben sie ein Lächeln auf den Lippen und nicht wenige winkeln ihren Unterarm ab und nehmen die standardisierte Popeye-Pose ein: endlich wieder stark! Man muss nicht zwingend auf den sozialen Medien unterwegs sein: Zeitungen, Fernsehen, Werbung – die Welt steckt im Impffieber und der nackte Oberarm mit Pflaster drauf ist das Aushängeschild für die Trendwende aus der Pandemie. Wer auf Instagram oder Facebook unterwegs ist, kommt ohnehin nicht dran vorbei, alles ist zugepflastert. Die Bilderflut wird bisweilen nur unterbrochen von ein paar glupschäugigen Hauskatzen, die verwirrt vom Tierarzttisch dreinschauen: #impfung schließt ja nicht zwingend eine Immunisierung gegen Katzenschnupfen aus.

Es wäre nicht das erste Mal, dass in dieser Pandemie Grundregeln Knall auf Fall auf den Kopf gestellt würden. Sich und seine Wunden öffentlich zu zeigen, steht im krassen Gegensatz dazu, wie in einer optimierten Gesellschaft mit Verletzungen umgegangen wird – und das noch dazu auf Plattformen, in denen Selbstoptimierung und Perfektion im Quellcode eingeschrieben sind. Wer seine Verletzungen offenbart, macht eben auch seine eigene Verletzlichkeit öffentlich. Im Gegensatz dazu ist die Pandemie eine kollektive Erfahrung: Einer scheinbar unbesiegbaren Gesellschaft werden ihre Schwächen aufgezeigt.

In einer globalen Welt, die in vielen Teilen nur Fortschritt und Freiheit kennt, wurde man selbst und ebenso alle Entscheidungsträger zu einem Haufen ungesicherter Seiltänzer, die den freien Fall nie geprobt haben. Die Impfung hingegen, die ist das Sicherheitsnetz, das den postpandemischen Lazarus-Effekt einläuten soll: die Auferstehung einer Gesellschaft. Zyniker könnten durchaus meinen, dass jene Bilder, die Menschen von ihrer Immunisierung öffentlich machen, wie moderne Andachtsbilder wirken. In guter Tradition wäre man damit zumindest: Während etwa die Verletzungen mythologischer Helden – wie etwa bei Achilles – deren größter Makel waren, ist in der christlichen Ikonografie die Wunde vielfach positiv besetzt. Es klingt einigermaßen paradox, wenn man sich jene Bilder vor Augen führt, die der Wunde huldigen: Märtyrer, wie etwa der heilige Sebastian, von Pfeilen durchbohrt, andere brutal gefoltert, bisweilen fließt und spritzt das Blut in Strömen und Jesus Christus wird sogar ans Kreuz geschlagen. Schauderlich etwa auch jenes Bild von Caravaggio, das den ungläubigen Thomas zeigt, wie er ungeniert in der seitlichen Wunde von Jesus Christus bohrt. Und doch gilt die Wunde in der christlichen Kunst im wahrsten Sinne des Wortes als Öffnung zum Göttlichen, als Quell des Lebens und der Heilung.

Einmal kurz in der Wunde bohren: der ungläubige Thomas von Caravaggio
Einmal kurz in der Wunde bohren: der ungläubige Thomas von Caravaggio © KK


In der modernen Kunst hingegen war und ist die Auseinandersetzung mit der Wunde nicht die primäre Aussicht auf Heilung, sondern die Auseinandersetzung, die Öffentlichmachung des Schmerzes. Eines ihrer berühmtesten Aushängeschilder ist die mexikanische Malerin Frida Kahlo, die ihre inneren und äußeren Verletzungen zum zentralen Thema ihrer Kunst gemacht hat. Ein Aufschrei auf Leinwand. Sich mit den Wunden und damit auch mit dem Auslöser der Verwundung auseinanderzusetzen, war eine zentrale Forderung des deutschen Künstlers Joseph Beuys, der dieser Tage seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte: „Zeige deine Wunde“ war eines seiner wichtigsten Kunstwerke. Es zeigt ein Krankenzimmer mit zwei Leichenbahren, darunter stehen Zinkblechkästen, die unter anderem Reagenzgläser mit skelettierten Vogelköpfen enthalten. Es ist eine Aufforderung, sich mit seiner eigenen Verletzlichkeit auseinanderzusetzen. Eine Forderung, die gut in die Zeit passt, denn der Regenerationsprozess einer Gesellschaft nach Krisen geht weit über die Heilung hinaus.


Fürs Erste dürfen sich zumindest jene, die bereits geimpft sind, ein bisschen wie der Marvel-Charakter Captain America fühlen, der mit einer Impfung vom müden Soldaten zum Superhelden wird. Aber bitte bleiben Sie am Boden.