Das Museum der Wahrnehmung in Graz würdigt Sie gerade mit einer Ausstellung. Welchen Bezug haben Sie denn zu Graz, zu Österreich?

EUGEN GOMRINGER: Graz ist tatsächlich so etwas wie ein „Stück Heimat“ für mich, und da speziell das MuWa und die jetzt dort gezeigten Künstler, mit denen ich teils schon zusammengearbeitet habe. Meine erste Beziehungsstadt in Österreich war aber Wien. Ich knüpfte früh Kontakte mit Friederike Mayröcker oder Gerhard Rühm. Und auch mit dem kürzlich verstorbenen Friedrich Achleitner, den wir 2016 im Kunsthaus Rehau präsentierten. Dort, in der Nähe von Bayreuth, lebe ich seit 1967. Zugegeben nicht gerade der Mittelpunkt der Welt ...

Der Liebe wegen?

EUGEN GOMRINGER: Nein, gar nicht. Meine Frau Nortrud ist Rheinländerin, eine rheinische Frohnatur. Und sie kann eine Stunde frühstücken, unglaublich! Ich bin da eher der Herr Espresso, südländisch eingestellt, mit einer Zeitung schnell in die Bar und fertig.

Als Antwort auf die gegenstandslose konkrete Kunst etwa eines Piet Mondrian stellten Sie 1954 in Bern die konkrete Poesie vor. Wie sehen Sie sich selbst? Als malenden Dichter? Als dichtenden Maler. Als Wort-Steller?

EUGEN GOMRINGER: Es geht mir immer sehr stark um das Visuelle. Und ich bin ein Verdichter. Mehr verdichten als in meiner Poesie geht nicht. Manchmal würde ich ja sogar gern Gedichte von Kollegen verdichten, alles Narrative weglassen, das es gar nicht braucht.

Das Wort „schweigen“, das bei Ihnen oft vorkommt, ist dann also die dichteste Verdichtung.

EUGEN GOMRINGER: Mehr noch: die Lücke, der weiße Raum. Zudem verbinde ich mit Schweigen sofort Hören. Kontemplatives Hören und Schweigen ist ja auch wesentlich in der Theologie.

Ihre Tochter Nora ist ebenfalls eine experimentierfreudige Dichterin. Gibt es denn so etwas wie ein Lyrik-Gen bei den Gomringers?

EUGEN GOMRINGER: Weiß nicht. Wenn, dann eher ein Künstler-Gen. Vielleicht von meinem Großvater, der Goldschmied in Zürich war und sehr schöne Zeichnungen für die Familienchronik anfertigte.

Sie wurden im Jänner 94 Jahre jung. Sind Sie heute fleißiger oder fauler beim Schreiben als früher?

EUGEN GOMRINGER: Fleißiger. Weil disziplinierter. Weil ich nicht mehr wie in den 50 Jahren zuvor immerzu Ja sage zu Lesungen, Diskussionsabenden, Eröffnungsreden bei Ausstellungen et cetera. Und doch mache ich das alles gern. Das gehört zu meinem Sekretärswesen, und als Sekretär der Worte bin ich einer, der viel und gern reist. Ich schreibe übrigens ausschließlich mit der Hand, meine Frau überträgt dann meine Texte in den Computer.

Sie brauchen also die natürliche Denkachse Kopf – Hand – Stift?

EUGEN GOMRINGER: Die Hand ist ein starkes analoges Werkzeug. Sogar die Erfinder der Computer hatten ja anfangs selbst keine Computer, um ihr Wissen über Daten und Elektronik, Semiotik, Nullen und Einsen niederzuschreiben. Und heutzutage sucht man in den Vernetzungen schon wieder die Analogie im Digitalen.

Um Ihr Gedicht „avenidas“ an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin entbrannte 2017 eine groteske Debatte um angebliche Frauenfeindlichkeit. Schließlich wurde es entfernt. Wie haben Sie all das erlebt?

EUGEN GOMRINGER: Ich fand die Reaktion richtig dumm, ärgerlich und ignorant. Keine von den Studierenden, die behaupteten, ich hätte darin Frauen zu Objekten degradiert, wusste um den Stellenwert des Textes. „avenidas“ ist das Ursprungsgedicht der konkreten Poesie. Als das Ganze schon hohe Wellen schlug, kam man doch auf die Idee, den Dichter selbst zu befragen. Also besuchten uns drei Professorinnen und zwei Studentinnen in Rehau. Aber, ich sage Ihnen: Die haben eine ganz andere Sprache gesprochen. Und dauernd betont, dass völlig demokratisch über Verbleib oder Entfernung des Gedichts abgestimmt wurde. Jedes dritte Wort war „demokratisch“. Da wird’s ja regelrecht verdächtig, wenn das so oft fällt. Außerdem sagten sie uns, ich sollte ihnen Bescheid geben, wenn ich für weitere Interviews in der Sache angefragt werde. Hätte ich also in Berlin anrufen und um Erlaubnis fragen sollen und um eine Stellungnahme von der Gegenseite? Absurd! Von Guillaume Apollinaire gibt es das Figurengedicht „Es regnet“. Wenn das nun auf meiner Hauswand stünde, müsste ich es dann löschen, nur weil sich irgendjemand einbildet, es ginge darin um „Feuchtgebiete“?

Ihre Tochter sah die Debatte bei aller Problematik auch positiv in dem Sinne: Ist doch faszinierend, dass ganz Deutschland über ein kleines Gedicht diskutiert.

EUGEN GOMRINGER: Ja, stimmt. Außerdem lernten dadurch ganz viele Deutsche fünf, sechs Worte Spanisch kennen. Zuerst Mallorca, dann Gomringer.

Apropos Spanisch: Haben Sie eigentlich noch Verbindung zu Ihrem Geburtsland Bolivien?

EUGEN GOMRINGER: Oh ja, und das gibt immer viel Arbeit. Ich bin derzeit in engem Kontakt mit zwei sehr guten Schriftstellern. Von einem übersetze ich gerade ein Buch. Ich weiß gar nicht, ob man das nach solchen Diskussionen in Deutschland überhaupt noch herausbringen kann. Der Roman beginnt mit der Kindheit des Autors und führt mehrfach ins Bett seiner Ehefrau.

Soll vorkommen.

EUGEN GOMRINGER: Es ist ein hoch sinnliches, wunderbar erotisches Buch. Es geht darin aber nicht um Sexualität, sondern um Sensualität, in allen Bereichen ... So, und was könnte ich Sie sonst noch fragen? (lacht verschmitzt)

Eines der berühmten Gedichte Gomringers
Eines der berühmten Gedichte Gomringers © KK