Ein Besuch auf Schloss Prinzendorf hat etwas Auratisches. Zwischen nüchternem Barock, vollbehangenen Wänden und dem Farbenrausch im riesigen Atelier begegnen einem aufgeweckte Hunde, desinteressierte Katzen und die Ziege Luise. In der Beletage empfängt Hermann Nitsch in Schwarz und mit Krücke. Der Künstler spricht mit ruhiger, breiter Stimme und luftdurchfluteter Wortwahl.

In Graz erinnert man sich noch gut an Ihre Ausstellung 1981, als ein gewisser Herwig Nachtmann eine Fuhre Mist vor dem Kulturhaus in der Elisabethstraße ablud. Wie haben die Nachtmänner dieser Welt Ihr Leben und Werk beeinflusst?

Hermann Nitsch: Mir ist es damals nicht anders gegangen als anderen Künstlern. Den Klimt hat man geschändet, den Schiele hat man geschändet. Einerseits hat es mich sehr gekränkt, wegen meiner Mutter, die in der Presse lesen musste, dass ich so „schlechte Sachen“ mache, andererseits haben mich meine Lehrer und Vorbilder damals schon vorausgreifend geschützt.

Ihrem künstlerischen Aufstieg hat es aber auch nicht geschadet.

Ja, und das soll nicht geleugnet werden. Aber ich war halt schon in jungen Jahren berühmt bzw. berüchtigt. Das ist halt so. Auf die Bilder der Impressionisten ist man mit Regenschirmen losgegangen und heute hängen sie als Kopien in den Wartezimmern von Ärzten und Rechtsanwälten. Das ist der Schöpfungskampf, der durchzustehen ist.

Sind die Zeiten für Künstler besser geworden?

Ich glaube, man ist insgesamt liberaler geworden. Trotzdem ist die Kunst vielleicht nicht besser geworden. Sie hat ein relativ hohes Niveau, aber es gibt keine Hochgebirge mehr.

Verstehen Sie das Leben als Passion?

Ich habe mich als junger Mensch sehr viel mit Mystik und Religionsphilosophie beschäftigt, und ich war ein großer Verehrer von Schopenhauer. Und dann habe ich von Nietzsche unglaublich viel gelernt, und meine Lebensphilosophie hat sich umgedreht. Ich habe das Leben bejaht, und dabei ist es geblieben. Ich sage Ja zur Schöpfung. Ich sehe das große Ereignis Natur, an dem ich teilhaben will.

Unser Freund Schopenhauer sagte aber auch einmal, „Religionen sind die Kindheitskleider der Menschheit“.

Religionen entsprechen Kollektivträumen der Menschheit. Religionen und Mythen sind groß angelegte Träume, Visionen der Menschen. Mythen haben immer eine Bedeutung und haben mit Tiefenpsychologie sehr viel zu tun.

Wenn man den ganzen Komplex Ihres Werkes als die eine Idee sieht, zu der Sie schon in jungen Jahren gelangten - gibt es eine Erkenntnis, die man als Errungenschaft gegenüber den Anfängen sehen könnte?

Ich habe mich sehr mit Psychoanalyse beschäftigt, und ich versuche mich in meiner Arbeit mit verdrängten Energien zu beschäftigen. Dass man sich therapeutisch im Theater frei und bewusst macht. Ich glaube, das ist schon mein Beitrag zur Bewusstseinsgeschichte der Menschheit. Mein Theater beschäftigt sich ja sehr viel mit dem Verdrängten, dem Triebhaften, mit Exzessen.

War das Sechstagespiel 1998 der Höhepunkt Ihres Lebens?

Ja. Und ich hoffe, dass es mir noch gelingt, ungefähr 2020 noch einmal ein Sechstagespiel zu verwirklichen. Eines, das vollkommen ist. Denn meine Sechstagespiel-Entwürfe sind ein Work in Progress, und das letzte könnte das beste sein.

Hat der Intellekt einen Platz neben der Sinnlichkeit?

Das Wort Intellekt ist nach dem Zweiten Weltkrieg sehr belastend geworden. Ich würde sagen, nennen wir das lieber Geist und Bewusstsein. Und das Sinnliche, das sinnliche Erleben ist ein geistiger Vorgang, weil es über das Bewusstsein ausgetragen wird. Ohne Geist und Bewusstsein gäbe es keine sinnliche Erfahrung.

Und wie steht's mit dem Humor als Teil des Intellekts?

In meiner Kunst schaut's mit Humor ziemlich traurig aus. Ich glaube, ich konnte guten Humor in den Wirtshäusern, beim Heurigen entwickeln. Ich habe mein ganzes Leben immer einen guten Schmäh gehabt und verwende ihn teilweise auch heute noch. Aber meine Arbeit war immer ein bissl humorlos. Das ist vielleicht eine Krankheit oder auch ein Vorzug.

Dionysos war auch immer dabei. Welche Rolle spielt Alkohol in Ihrer Arbeit und in Ihrem Leben?

Ich stamme von Weinbauern ab, habe mein ganzes Leben lang gerne Wein getrunken, bin aber kein Alkoholiker. Das hat immer ein begrenztes Ausmaß. Ich möchte aber schon, dass meine Aktionen einer dionysischen Berauschung entsprechen, und habe damit eigentlich sehr gute Erfahrungen gemacht.

Sie bezeichnen sich als Anarchisten?

Ja, als gewaltlosen Anarchisten. Die Anarchie ist die politische Lösung der Zukunft. Ich bin umgeben von Lügen und intellektuellen Schwindlern, und ich möchte damit nichts zu tun haben. Für mich hat die Kunst eine altruistische Funktion, weil sie für alle Menschen da ist.

In vielen Religionen gibt's die Idee des Weiterlebens. Wie ist das bei Ihnen?