Europa fühlt sich seit dem 24. Februar aus dem Frieden gerissen. Das herbst-Thema „Ein Krieg in der Ferne“ verortet die Welt aber in einem seit Jahrzehnten dauernden Kriegszustand. Wie kommen Sie darauf?
EKATERINA DEGOT: Es gab Jahrhunderte in Europa, zum Beispiel das 17., in denen fast ständig irgendwo in der Nähe Krieg herrschte. Und auch im 20. Jahrhundert gab es – vor allem auf dem Balkan, der so nahe an der Steiermark liegt – oft Krieg, während Europa sich als friedlich betrachtete. Der Balkan, so wie heute die Ukraine oder Russland, galt nicht wirklich als Teil von Europa. Diese imperiale, koloniale und oft rassistische Haltung steckt sehr tief. Erst jetzt, da wir in einer globalen Welt leben, spürt Europa, dass es auch von der russischen Aggression betroffen ist: atomare Gefahr, Gas. Nicht Kriege an sich, sondern dieses Gefühl, weit weg von einem Krieg oder, im weiteren Sinne, von Gewalt zu sein, dieses Biedermeiergefühl steht heuer im Mittelpunkt des Festivals und der Ausstellung in der Neuen Galerie Graz. Natürlich ist es eine kritische Perspektive, wie immer beim steirischen herbst.

Sie stellen in der zentralen herbst-Ausstellung historische und zeitgenössische Werke zu Krieg und Konflikt gegenüber. Was lässt sich damit erreichen?
Hauptziel der Ausstellung ist es, die Sammlung der Neue Galerie Graz von einem zeitgenössischen Standpunkt aus neu zu betrachten. Es ist keine Ausstellung über den Krieg oder Kriege, sondern eine Ausstellung über die Sammlung – über das, was in ihr vielleicht in Vergessenheit geraten ist, aber jetzt, wo ein Krieg vor unserer Haustür stattfindet, relevant erscheint. Die Arbeiten zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler dienen als Kommentare zu den historischen Werken. Einige von ihnen wurden eigens dafür in Auftrag gegeben, andere sind kritische kuratorische Aussagen. Kein Werk in dieser Ausstellung kann als isoliertes Meisterwerk betrachtet werden, alles muss als eine große kuratorische Erzählung in mehreren Kapiteln gesehen werden.

Erster Eindruck bei Durchsicht des Programms: nach einigen recht straff auf bildende Kunst ausgerichteten herbst-Saisonen bieten Sie nun mehr Performatives, mehr „Events“ an: Was hat Sie zu dieser Adaption bewogen?
Das Herzstück des Programms ist die Ausstellung in der Neuen Galerie Graz, an der rund hundert Künstlerinnen und Künstler beteiligt sind. Diese Zählung beinhaltet nicht die Prologausstellung und die Schau im Forum Stadtpark. Die bildende Kunst in ihren traditionellen Formen – Gemälde und Zeichnungen – steht heuer also eigentlich viel stärker im Mittelpunkt als in früheren Ausgaben. Aber wie immer bevorzugen wir Werke, die eine Synergie aus Musik, Text, Installation und Performance herstellen, wie die Projekte von Raed Yassin und Ming Wong, um nur zwei Beispiele zu nennen. Beide sind bildende Künstler, aber ihre Werke sind sehr theatralisch, sehr musikalisch. Boris Nikitins Arbeit kann als literarisches Werk und nicht nur als Theater betrachtet werden – so funktioniert der herbst, nicht in „Sparten“, ein Konzept, das ich wirklich ablehne.

Das ist Ihr fünfter herbst. War es für Sie schwierig, Graz und die Steiermark zu verstehen?
Ich war schon früher in Graz, und ich nutze jede Gelegenheit, um mehr über die Geschichte dieser Region zu erfahren, die für die Geschichte Europas von zentraler Bedeutung ist. Es gibt natürlich noch Dinge, die mir ein Rätsel sind, zum Beispiel, warum man in Graz nicht mehr Zuneigung für die wunderschöne Mur empfindet, oder warum viele Restaurants auch im Juli noch Gulasch servieren statt mehr Grün auf ihrer Karte zu haben.

Sie sind Russin; auch russische Oppositionelle sahen sich zu Kriegsbeginn oft mit Misstrauen konfrontiert. Hat sich das mittlerweile geändert?
Die Situation für Oppositionelle, Künstlerinnen und Künstler eingeschlossen, ist schlechter geworden, sowohl innerhalb Russlands als auch im Ausland. Einige meiner früheren Kunststudierenden wurden verhaftet oder könnten es bald werden. Sie sind stark bedroht, und es ist schwieriger geworden, das Land zu verlassen: Ein Visum für Europa zu bekommen, ist fast unmöglich. Viele Länder schließen ihre Grenzen und annullieren die Visa derjenigen, die welche haben. Es gibt kaum Flüge. Das ist verständlich, aber gelegentlich fühlt es sich so an, als ob es nicht um Sanktionen gegen das Putinistische Regime ginge, sondern um die kryptorassistische Einstellung, die ich anfangs erwähnt habe: „Diese Barbaren gehören nicht zu Europa.“ Den Verbündeten innerhalb Russlands zu helfen, wäre eine sinnvollere Strategie gewesen.

Die ukrainische Autorin Tanja Maljartschuk hat bei einer Lesung in Graz unlängst die angebliche „apolitische“ Haltung auch unter russischen Künstlerinnen und Künstlern scharf kritisiert. Angesichts des Krieges könne man nicht apolitisch sein, sagte sie. Was meinen Sie dazu?
Ich stimme dem natürlich voll zu, mit der Korrektur, dass man zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte apolitisch sein kann, da dies auch eine politische Haltung ist. Das Biedermeier ist sehr politisch, denn es geht darum, den Status quo um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Einige russischen Künstler:innen sind vielleicht nicht apolitisch, sondern weigern sich einfach mitzumachen, ziehen sich ins „innere Exil“ zurück – historisch gesehen war das in Russland oft die einzige Möglichkeit, eine politische Position zu vertreten. Dennoch gibt es auch Aktivistinnen und Aktivisten, die ich bewundere. Diejenigen, die in Russland weiterhin „business as usual“ betreiben, machen einen schweren Fehler, aber es ist nicht an mir, sie zu verurteilen.

Es gibt im herbst wie immer umfangreiches Parallelprogramm, gerüchteweise erhalten etliche der Partner keine finanzielle Unterstützung durch den herbst. Können Sie dem entgegentreten? In welcher Höhe ist das Parallelprogramm dotiert?
Die Höhe ist jedes Jahr anders und hängt von vielen Faktoren ab. Seit wir den Open Call fürs Parallelprogramm eingeführt haben, erreichen uns jedes Jahr um die 100 Einreichungen. Uns ist es wichtig, dass nicht nur etablierte Institutionen die Möglichkeit bekommen, Teil des steirischen herbst zu werden, sondern jeder und jede die Chance hat, ihre Vorschläge einzubringen. Alle Projekte zu unterstützen ist für uns budgetär unmöglich. Unser Ziel ist es aber, jedes Jahr die größtmögliche Anzahl an lokalen Initiativen und Partnern ins Programm aufzunehmen und ihnen maximale Sichtbarkeit geben, auch international. Das heißt, dass wir nicht jedes Jahr dieselben Institutionen finanziell unterstützen können und es bedrückt mich, dass das zu einer Neidkultur führt. Wir geben bei jedem Projekt an, ob es finanzielle Unterstützung erhalten hat oder nicht, wollen hier also nichts verschleiern. Und um es einmal ganz klar zu sagen: trotz der vielen internationalen Produktionen verbleiben im Schnitt 85% des Budgets des steirischen herbst in Österreich, 65% davon in der Steiermark, da wir ja auch über das Parallelprogram hinaus mit lokalen Partnerinnen und Partnern zusammenarbeiten.

Bitte noch um eine Programm-Empfehlung für herbst-Kenner.
Die Ausstellung zu Harun Farocki im Forum Stadtpark und das rahmende Diskursprogramm dort, besonders das Filmscreening und Gespräch mit dem renommierten ukrainischen Filmemacher Oleksiy Radynski am 13. Oktober kann ich herbst-Kennern sehr empfehlen.

Und Ihre Empfehlung für herbst-Einsteiger?
Das herbstkabarett mit Lorenz Seidler, besser bekannt als eSeL, dem Frankfurter Duo Les Trucs und der für ihre pointierten Anspielungen bekannten Künstlerin Verena Dengler wird an drei Abenden das Forum Stadtpark zum Lachen und Nachdenken bringen, auf eine wort- und bildgewandte Weise, manchmal auch musikalisch. Da ist für jede und jeden etwas dabei und davor kann noch die frei zugängliche Ausstellung dort besucht werden.

Ein wichtiger Programmpunkt, der uns bisher entgangen sein könnte?
Die Ausstellung im Parallelprogramm über das Wirken von Herbert Eichholzer in ihrem sehr ungewöhnlichen und atmosphärischem Schauplatz in Eisenerz, oder das Programm von „Haus lebt“ in Hartberg sind zwei Programmpunkte, die ich auch außerhalb Graz jedem ans Herz lege. Und das Programm von Aporon 21, in seiner spannenden Retro-Location im ehemaligen Pichler Möbel, das viele vielleicht noch von früher kennen.