Er war ein Einzelgänger der Moderne, der sich nie von einer Kunstströmung vereinnahmen ließ und „immer seinen eigenen Weg ging“, charakterisiert Kuratorin Julia Schuster den aus einem Schtetl in Witebsk im heutigen Weißrussland stammenden Marc Chagall (1887-1985). Die schwebenden, zarten Bildmotive und die intensiven Farben sind wohl die vordringlichsten Kennzeichen der rund hundert Bilder, die in der Stadtturmgalerie in Gmünd ausgestellt sind. Sie stammen aus der „Sammlung Rheinland“ eines deutschen Ehepaares, das seit mehr als dreißig Jahren Chagall-Werke erwirbt, „mit ihnen lebt“ (Schuster) und nun erstmals eine Auswahl der Öffentlichkeit präsentiert. Es sind Werke, die das Kaleidoskop einer farbigen Traumwelt wiedergeben, die in der jüdisch-chassidischen Tradition begründet ist – einer Art Hintergrundfolie zum Leben Chagalls, das vom Grundsatz „Freude als Tugend, Traurigkeit als Sünde“ (Schuster) geprägt wurde.

Julia Schuster und Erika Schuster in der Ausstellung
Julia Schuster und Erika Schuster in der Ausstellung © Karin Waldner-Petutschnig

Die Qualität der Ausstellungskataloge sei ausschlaggebend gewesen, dass das Sammlerehepaar seine (gemäß einem Werbeslogan für Gmünd) „große Kunst in der kleinen Stadt“ zeigt, erzählen Erika und Julia Schuster stolz beim Rundgang durch die Turmgalerie. Und so bietet der Buchkatalog noch mehr als die sehenswerte Präsentation im romantischen Turm, nämlich Einblick in die gesamte, rund 300 Chagall-Werke umfassende Rheinland-Sammlung. Es ist die letzte Schau an diesem Ort, der in Zukunft für Künstlerateliers genutzt werden soll. Denn ab kommendem Jahr wird der in eine Privatstiftung aufgegangene Verein die großen Ausstellungen im neu geschaffenen Kunsthaus am Hauptplatz einrichten.

Die Liebe zu Bildern und Büchern eint heuer die Sammler und die Ausstellungsmacherinnen – und spannt auch gleich den Bogen zum Werk Marc Chagalls, der mehr als hundert Bücher illustrierte und mit 1100 Farblithografien, dazu Radierungen, Gouachen, Holzschnitten, zu den produktivsten Künstlern des 20. Jahrhunderts zählt. 82 Lithografien sind in einem Buch zur „Odyssee“ versammelt, die nach Chagalls Beschäftigung mit der antiken Liebesgeschichte „Daphnis und Chloe“ entstand. „Man tut wohl, es alle Jahre einmal zu lesen“, empfahl laut Katalog bereits Goethe die historische Erzählung. Ihr ist ein eigenes Stockwerk im Stadtturm gewidmet. So wie dem Thema Zirkus, um das sich auch das Familienprogramm in Gmünd dreht: „Mal hier dein eigenes Bild, auf dem alles durch die Lüfte fliegt“, fordert ein Arbeitsblatt Kinder (und ihre Eltern) dazu auf, sich mit offenen Augen und Sinnen auf die Ausstellung einzulassen. Zu sehen gibt es außerdem Radierungen zu Nikolai Gogols Roman „Die toten Seelen“ und der Bibel, zu denen Chagall vom Pariser Verleger Ambroise Vollard angeregt wurde.

„Kein Element ist so sehr Chagall wie das Liebespaar und der Blumenstrauß“, schmunzelt Julia Schuster angesichts einer Reihe von Blumenbuketts zu Beginn der Ausstellung. In seinen Bildern überwindet der Künstler außerdem die Schwerkraft, lässt Liebespaare und Ziegen durch die Luft springen, Fische über den Himmel fliegen; er stellt den Eiffelturm auf den Kopf und macht es malerisch den Akrobaten im Zirkus gleich, die mit Anmut und Leichtigkeit durch die Welt turnen. Es ist die pure Lebensfreude, die aus diesen Bildern spricht.

Ergänzt wird die farbintensive Schau durch SW-Bilder des Fotografen Edward Quinn, der Chagall mehrfach in dessen provenzalischer Wahlheimat besucht hatte und mit Gedichten, die den Maler auch als Lyriker vorstellen. Der malende Poet schöpfte sein Leben voll aus, bevor er im Alter von 97 Jahren starb. Ihn in Gmünd kennenzulernen ist ein Pflichtprogramm für Kunstfreunde in diesem Sommer.

Marc Chagall in seinem Haus in Saint-Paul-de-Vence, 1953, fotografiert von Edward Quinn
Marc Chagall in seinem Haus in Saint-Paul-de-Vence, 1953, fotografiert von Edward Quinn © Edward Quinn