Das Buch, das Pater Gerfried Sitar da gerade in einem wohltemperierten Raum irgendwo im Stift St. Paul aufschlägt, ist das älteste gebundene Buch außerhalb des Vatikans. Der Ambrosius-Kodex stammt aus dem 5. Jahrhundert, gilt als das erste illuminierte (also mit Buchmalerei versehene) Manuskript Europas und „ist eines der wichtigsten Schreibdokumente überhaupt“, sagt der Leiter des Stiftsmuseums St. Paul. Geschätzter Wert: 40 Millionen Euro aufwärts. Unser Erstaunen darüber, dass er den kostbaren Band mit bloßen Händen anfasst, kostet ihn nur ein Lächeln: „Natürlich tragen Forscher bei uns auch Handschuhe. Aber es genügt auch, wenn man sich die Hände gründlich wäscht. Das ist ja lebendiges Material“, sagt er über das kostbare Pergament. Dank dieses Schatzes ist die Handschriftensammlung in St. Paul die einzige in Österreich, die die Evolution der Schreibkunst vom 5. bis ins 18. Jahrhundert lückenlos dokumentiert.

Denn in dem unspektakulären Raum irgendwo im Stift St. Paul, in dem sich Bücher über Büchern stapeln, gibt es noch viele weitere spektakuläre Schätze. Dazu zählt ein Missale aus der Druckerpresse von Johannes Gutenberg, das Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden ist und als eines der ältesten gedruckten Bücher der Welt gilt. St. Paul ist aber auch im Besitz eines vollständigen Exemplars der „Lorscher Annalen“, die als wichtiges zeitgenössisches Zeugnis der Krönung Karls des Großen im Jahr 800 gelten, einer Karolingische Rechtshandschrift mit der ältesten bildlichen Darstellung Karls des Großen, von zahlreichen Minne-Texten oder des „Reichenauer Schulhefts“. Dabei handelt es sich um eine Sammelhandschrift aus dem frühen 9. Jahrhundert, die unter anderem ein altirisches Gedicht über den Klosterkater Pangur Ban enthält, der „für die Iren das ist, was für die Amerikaner die Micky Maus ist“, so Pater Gerfried Sitar. Und auch die „Rota compositionis“, die älteste Harmonielehre der Welt, ist im Besitz des Stiftes.

Der Ambrosius-Kodex aus dem 5. Jahrhundert
Der Ambrosius-Kodex aus dem 5. Jahrhundert © Markus Traussnig

All diese Schätze liegen seit Beginn des 19. Jahrhunderts in St. Paul. Im Rahmen der Säkularisierung war das Stift im Jahr 1787 aufgehoben worden – ein Großteil der vorhandenen Bibliothek ging damals nach Klagenfurt in die „K.K Stiftsbibliothek“. 1809 bezogen dann die Benediktinermönche des aufgelösten Klosters St. Blasien (Schwarzwald) das Stift und brachten die wertvolle Büchersammlung, aber auch Kostbarkeiten wie das Adelheid-Kreuz aus dem 11. Jahrhundert oder Werke von Peter Paul Rubens, Albrecht Dürer, Rembrandt oder Jusepe de Ribera mit. Die erste Kärntner Landesausstellung 1991 widmete sich der „Schatzkammer Kärntens“ und zog 270.000 Besucher an, später gab es im Vorfeld der großen Europaausstellung „Die Macht der Bücher“ (2009) umfangreiche Umbaumaßnahmen – unter anderem zum Schutz der Bestände. Gesichert sind die Glanzstücke durch Alarmanlagen, Videoüberwachung oder gepanzerte Brandschutztüren.

Im rund 80 Quadratmeter großen Raum, in dem die kostbaren Handschriften liegen, wird das Raumklima zudem konstant unter 21 Grad und zirka 50 Prozent relativer Luftfeuchte gehalten, denn darüber „ringelt sich Pergament ein“, erklärt Pater Gerfried. Dabei helfen auch die unlackierten Holzregale, weil Holz Feuchtigkeit aufnehmen und abgeben kann. Und das ist nicht nur für die rund 5000 Bücher um uns herum wichtig, sondern auch für die 2000 Urkunden im Raum. Und auch hier sind wahre Schätze zu finden, darunter von Ludwig dem Frommen (778-840) und Otto dem Großen (912-973) unterschriebene Urkunden oder auch eine Urkunde, mit der Papst Alexander VI. (1431-1503) den Ablasshandel für St. Paul regelt.

Der Großteil der Büchersammlung, die insgesamt über 100.000 Exemplare umfasst, ist allerdings in den Kellergewölben in einer Schaubibliothek mit 70.000 Büchern und 1,9 Kilometern an Bücherregalen zu sehen. Und zwar wieder ab 1. Mai, wenn das Stift das Museum für die neue Ausstellung „Nackt. Zieht an“ öffnet.