Erzählt wird aus der Perspektive einer Erwachsenen, die sich an ihre Kindheit erinnert: Die Elfjährige hockt bei einem Versteckspiel mit ihrer Freundin unter einem LKW und beobachtet, wie ihre Familie den Auszug von ihrem Zuhause abwickelt. „Geh ruhig tiefer hinein. Immer dem Dunkel nach. Und der Stille“, heißt es einmal.

Der Gratschbacher Hof in Mittelkärnten wird geräumt und das „Diandle“ erinnert sich an Hand eines alten Klassenfotos an zurückliegende Erlebnisse. Darunter sind – es überrascht kaum – Missbrauchsgeschichten durch Geistliche, die Nazi-Vergangenheit der Dörfler, Zwiebelmuster-Geschirr und die Bemühungen der Mutter, ihre burschikose Tochter in Kleider zu zwängen. Diese Entwicklungsgeschichte eines queeren Mädchens ist in der österreichischen Provinz angesiedelt, in einem Kärnten, das schon von Peter Handke und Ingeborg Bachmann, Peter Turrini und Maja Haderlap eindringlich geschildert worden ist. Kraftvoll und sarkastisch arbeitet sich nun auch Julia Jost in ihrem Debütroman an ihrer Kärntner Heimat ab. So wie es auch Josef Winkler Anfang der 1980er Jahre mit seinem Romanzyklus „Das wilde Kärnten“ tat, als die Autorin geboren wurde. Sie muss also schon thematisch mit übermächtigen Vorbildern mithalten.

Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht. Suhrkamp, 234 Seiten, 24.70 Euro
Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht. Suhrkamp, 234 Seiten, 24.70 Euro © KK

Wie diese wilde, freche Autorin das Altbekannte auffächert und was ihr Buch dennoch lesenswert macht, ist die ungestüme, ironisch grundierte Sprache, die die Coming-of-Age-Geschichte als Psychogramm einer Gesellschaft von Verlierern erzählt. Kraftvoll und sarkastisch arbeitet sich die in Hamburg lebende 44-Jährige, die mit einem Auszug aus ihrem Debütroman 2019 den Kelag-Preis beim Bachmann-Wettbewerb gewann, an ihrer Kärntner Heimat ab. Die einzelnen Figuren zeichnet sie dabei charakteristisch und bunt, aber nie liebevoll verklärt, sondern abschreckend in ihrer Selbstgerechtigkeit.

Wo „das Waldheimportrait direkt unter dem Jesuskreuz“ prangt und das Messer des Großvaters mit dem SS-Motto „Meine Ehre heißt Treue“ geschmückt ist, herrschen bei Julia Jost süßliche Bösartigkeit, Vergangenheits-Verklärung und Düsternis. Mit den vielen Regionalia und Kärntner Mundartausdrücken mutet der Suhrkamp Verlag seiner bundesdeutschen Leserschaft wohl einiges zu, ein Glossar auf der Verlags-Homepage hilft aber weiter. Die Österreicher und Österreicherinnen kennen das alles. Dennoch: Der kraftvollen literarischen Stimme von Julia Jost weiter zuzuhören wird jedenfalls spannend sein.