Tomberlin - memory

Langsam wird’s öd. „Was für ein katastrophales Jahr“ stand hier zum Auftakt des 20er- und darauf gleich wieder im 21er-Durchlauf. Waren aber: Katastrophenjahre in Ausbildung, Azubi-Apokalypsen, rückblickend ist alles gut was damals schlecht war. 2022 also, here we go again: Den Auftakt macht die wunderbare Madame Tomberlin, ein Song wie die ersten mutigen Sonnenstrahlen aus einer besseren Welt auf unser Sorgenland. 2022? Memory, erased.

The Smile – You’ll never work in television again

Genug der Traurigkeit ob des Zustandes der Welt. Wut tut gut! Die radioverkopften Greenwood und Yorke plus Sons-of-Kemet-Drummer Tom Skinner steigen mit ihrem Debüt als „The Smile“ mitunter ungewohnt direkt in die Eisen. Der Kopf hat Pause, kommt eh schon lange nicht mehr mit bei dem ganzen Irrsinn, zur Feier laden von nun an die… Gitarren.

Press Club – Endless motion

Wie stehen die Aktien, was macht die Kunst? Saublöde Fragen, schon zur Normalzeit, aber der 90er-Speech ist ausnahmsweise Absicht, weil: mindestens so öd wie Refrains ohne Worte – und die gab es in dem Jahrzehnt mehr denn je. Also nur „Ahhhhh“, „Ooooooh“ und so. Aber – und da holt uns das Scheißjahr schon wieder ein – wie fühlt man sich denn angemessen, wenn die drei K´s der Gegenwart alles beherrschen? Krieg, Krankheit und Kostenexplosion – „i feel like“ bauen die grandiosen „Press Club“ (keine 3.000 Follower auf YouTube, wo bitte ist die Inflation wenn man sie mal braucht?) ihren Refrain auf. Und dann? Kommt nix, weil es keine Worte gibt. Nur ein Gefühl, ein Schrei. Die Einsicht folgt in den ruhigen Momenten, so auch in dem Song, mit der schönsten, tröstenden Zeile dieses Jahres.

„Lately I’ve been feeling like I´m holding you tighter
Baby I´m just feeling like my world is on fire“

Metallica – Lux Aeterna

Diese Herren haben teilweise den 60er hinter sich! Nötig haben sie ohnehin gar nichts mehr, schon gar keine Geschenke, umso beeindruckender hört man den Spaß an der Sache heraus: Hetfield erweitert das stimmliche Register ein wenig nach oben, die Kollegen, denen bösen Zungen oft nicht mehr als die Rolle der Putzerfische zusprechen, absolvieren ihre Aufgabe fokussiert wie noch nie in diesem Jahrtausend und bringen das Riff zum Glänzen. Und selbst Ulrich trifft die Double-Bass, dass der Wadenkrampf nur so zuckt. Heiliger Bimbam! Beinahe glaubt man, Lemmy würde da noch mal den Bass auspacken und mitspielen wollen.
Hell from the other side.

Big Thief – Simulation Swarm

Was für eine Band, was für ein Gitarrensolo. Die Weirdo-Parade von „Big Thief“ bleibt in Sachen Entrückung nur nachrücken übrig, schließlich rückt die verrückte Welt immer weiter auf. Rücksicht bitte auf diese Kapelle!

Daphni – cloudy

Wir schreiben ein Jahr, in dem Computer plötzlich sprechen lernen, denken können und fühlen sollen. Was kann ein Mann wie Dan Snaith, der mit seinem Elektro-Projekt "Daphni" nebst seiner hauptberuflichen Tätigkeit als Ober-Caribou, immer schon die menschgewordene Drummachine war, da noch leisten? Er findet die grandiosen Zwischentöne, die im Club die Knöpfchen verdrehen und garniert sie mit dem Klavier-Sample des Jahres. Ok, Computer können vielleicht Sprechen, Denken und Fühlen, aber Scheißengehen können sie auch.

Two Shell – home

Nun gut, eigene Beweisführung gleich wieder erfolglos abgebrochen. Denn wer hinter "Two Shell" steckt, weiß kein Mensch – es könnte ein Computer sein. Denn "Home" schöpft mit seinem hochgedrehten Gummibärchen-Sample (das Original: "Chinah – Away from me") so derart direkt aus dem rhythmischen Endorphinpool, dass der Verdacht nahe liegt, dass sich hier eine allwissende KI einen experimentellen Spaß erlaubt, bevor sie dann 2023 erst so richtig weltherrschaftlich durchdreht und uns allen zeigt, wo der Algorithmus den Most holt.

Kendrick Lamar – Worldwide Steppers

Vielleicht sollte man jetzt einfach mal nichts sagen, bei diesen Themen. Zumindest nicht als weißer halbalter Mann, verheiratet mit dem in Sachen Hip-Hop unbeflecktesten weißesten Mädchen der Welt. Sondern einfach zuhören, wenn Kendrick Lamar die Themen Rassismus, Homophobie, Cancel Culture, Älterwerden, seine Ehe und die Kinder durch den Reimwolf dreht. Was rauskommt, ist eine Aufarbeitung, an deren Ende keine Antwort steht, sondern der Perspektivenwechsel. Gesellschaftliche Zweideutigkeiten haben oft eine laute, weiße Deutung – und eine leise, schwarze. Letzterer ist zuzuhören, schweigend.

Kevin Morby – This is a photograph

Ob er jetzt der neue Bob Dylan ist oder nicht, wen kümmert es. Was Ikone und Epigone vereint, ist das Bewusstsein für die Mythologie in der Weite des Heimatlandes. Wie einst König Bob sucht auch Prinz Morby Inspiration in den entlegenen Regionen der USA, die Lyrics sind gespickt von landschaftlichen Verweisen und geschichtlichen Lektionen aus der Einöde, stets – und das ist gerade in diesem Jahr wertvoll – eingebettet in zart hoffnungsvolle Grundtöne. In der Isolation liegt der erste Schritt zum Aufbruch.

Ryan Adams – Take it back

Entcancelt ist er, der zwei seiner Kernkompetenzen, Verhaltensauffälligkeit und How-to-be-an-Arschloch, so mühelos mit großem Humor und noch größerem Songwriting verbindet. Sechs Alben hat der Mann 2022 veröffentlicht – sechs ganz gute oder, hätte er endlich mal einen vertrauenswürdigen Produzenten und Editor – ein grandioses. In dieser Welt wäre "Take it back" dann sowas wie ein Sommerhit geworden, der aus offenen Fenstern auf das Meer schallt, beide untermalen funkelnd die Erinnerung an wunderbare Tage. Auch wenns nie passiert ist.

Tallest Man on Earth – Pink Rabbits

Zeit für ein Cover-Album! Sagte noch nie ein Künstler, der noch Ideen hat. Die gingen auch dem großen kleinen Schweden zuletzt zuneige, was aber jetzt nicht zwangsläufig das Problem des Rezipienten dieser Songs ist. Ganz im Gegenteil: Was da im Herbst an geballter Interpretationsfreude veröffentlicht wurde, lässt hoffen, dass der Tallest Man bald selbst wieder zu Ideen dieser Größe fähig ist – oder dass sie ihm auf immer ausgehen mögen, quasi Fadest Man on Earth. Denn so lange er Songs wie "Pink rabbits" von The National aufs Wesentliche verdichtet, hat der Rezipient nichts zu befürchten.

Gena Rose Bruce, Bill Callahan – Deep is the way

Rauswerfer an der Weggabelung, an der die Welt zum Ende des Jahres steht. Es bleibt die Hoffnung auf eine lehrreiche Zeit, ein Zurechtrücken nach endlosem Steigflug ohne Bodenkontakt. Fluch und Segen der Nachdenklichen ist die Freiheit der Entschleunigung – und die Angst vor dem, was noch kommen mag. Ein Song wie eine Warnung, mit den Gedanken zur Zeit sorgfältig umzugehen.

„So don't get lost in a world that favours fast living
Cause you've got a mind for drifting and dreaming
A beautiful mind that will both terrify and free you

But for a beautiful mind, deep is the way“