Die Rote Fahne blieb aus. Die Diskussionen auch. Ganz kontrolliert glitt am Donnerstagabend "Das Floß der Medusa" über die Bühne des Wiener Konzerthauses. Hans Werner Henzes Oratorium, das 1968 bei der Uraufführung in Hamburg Skandal machte, wurde beim Eröffnungskonzert der 30. Ausgabe des Festivals Wien Modern am Ende, als die zaghaften "Ho, Ho, Ho Chi Minh"-Chöre verklungen waren, bejubelt.

Die Schiffstragödie von 1816, bei der die nach Senegal segelnde Fregatte Medusa auf eine Sandbank lief und die Mehrzahl der Passagiere und Seeleute in einem rasch zusammengezimmerten Floß dem Schicksal überlassen wurden, während die höheren Ränge und Beamte mit den Rettungsbooten davonsegelten, wurde jüngst durch Franzobels bemerkenswerten Roman "Das Floß der Medusa" wieder in Erinnerung gerufen. Die Berichte der wenigen Überlebenden, die von unsagbarem Leid, Kämpfen und Kannibalismus am Floß berichteten, inspirierten Theodore Gericault zu seinem berühmten Gemälde und eineinhalb Jahrhunderte später Henze und seinen Librettisten Ernst Schnabel zu einer musikalischen Parabel über den Verlust der Moral und den unweigerlich losbrechenden Klassenkampf.

In der Atmosphäre des Jahres 1968 war alles ein Politikum: Henzes Art zu Komponieren, die Aussage des Librettos, vor allem aber die auch auf der Bühne aufgezogene Rote Fahne, mit der einer der überlebenden Matrosen das rettende Schiff auf sich aufmerksam macht. Statt Musik gab es in der Halle im Hamburger Park "Planten un Blomen" Diskussionen, Schreiduelle und am Ende einen Polizeieinsatz, der die Uraufführung platzen ließ.

2017, wenige Tage vor der hundertsten Wiederkehr der russischen Oktoberrevolution (7. November nach unserem Kalender), erregt "Das Floß der Medusa" in Wien niemanden - obwohl doch nach Europa brandende "Flüchtlingswellen" mit ihren Dramen bei den Schiffspassagen über das Mittelmeer wochenlang die Nachrichten beherrschten. Vielleicht liegt es daran, dass Henzes Che Guevara gewidmetes Oratorium zu jenen Stücken zu zählen ist, deren Aufführungsgeschichte aufregender ist als sie selbst. Vielleicht liegt es aber auch an der von Cornelius Meister dirigierten Aufführung durch das ORF Radio-Symphonieorchester Wien. Diese war jedenfalls mehr ordentlich als elektrisierend.

Der vorgesehene Solist Matthias Goerne musste seine Mitwirkung aus gesundheitlichen Gründen leider absagen. Einspringer Dietrich Henschel vermochte ebenso wenig in den Bann zu ziehen wie Sopranistin Sarah Wegener als seine musikalische Dialogpartnerin "La Mort". So drückte der - allerdings nur selten zum Einsatz kommende - Sprecher Sven-Eric Bechtolf mit seinen fast schon mehr gesungenen als gesprochenen erzählenden Passagen der Aufführung den Stempel auf.

Der Arnold Schoenberg Chor und die Wiener Sängerknaben absolvierten die schwierige, zwischen herben Dissonanzen und romantischen Melodieanklängen alle Mittel ausschöpfende Partitur mit Akribie und wechselte im Verlauf des eineinhalbstündigen Abends zunehmend von der linken Lebendenseite auf die rechte Todesseite der Bühne - eine existenzielle Wucht entfaltete die Aufführung jedoch nur momentweise. Mit Cornelius Meister am Steuer war man zumeist mit gerafften Segeln in sicheren Gewässern unterwegs.

Das Festivalthema 2017 lautet "Bilder im Kopf". Ausgerechnet die wollten sich beim Eröffnungskonzert nicht so wirklich einstellen. In der Hamburger Elbphilharmonie wird man am 17. November dem ein wenig nachhelfen. Einer "Floß der Medusa"-Aufführung des SWR Symphonieorchesters unter Peter Eötvös (als Solist ist auch hier Matthias Goerne angekündigt, Sprecher ist Peter Stein) wird dort als Prolog eine Lesung aus Elfriede Jelineks "Die Schutzbefohlenen" vorangestellt.

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