Wie lange haben Sie für Ihren Film über den Genozid von Srebrenica gebraucht?
JASMILA ŽBANIC: Ich habe lange über Srebrenica nachgedacht. Seither trage ich den Schock und das Gefühl des totalen Verrats durch die Vereinten Nationen in mir. Ich verfolgte das Drama der Frauen, die nach ihren verschwundenen Söhnen und Vätern suchten. Fünf oder zehn Jahre hofften sie, diese zu finden. Als man Massengräber entdeckte, verloren sie jede Hoffnung. Sie fokussierten darauf, ihre Leichen zu finden. Aber bis heute bleiben 1000 der Opfer vermisst. Für uns ist Srebrenica nicht Geschichte. Vor zehn Jahren dachte ich daran, dass jemand einen Film darüber machen sollte. Ich dachte erst nicht an mich. Vor fünf Jahren begann ich dann, das Buch zu schreiben.

Sie taten es, weil es sonst niemand wagte?
Es ist ein sehr kompliziertes Thema, weil es in unseren täglichen Diskussionen noch sehr lebendig ist. Es existieren so starke politische Narrative über Opfer und Täter und diese Erzählungen kollidieren die ganze Zeit. Es ist wie ein Minenfeld, wo man aufpassen muss, keinen falschen Schritt zu setzen. Mit diesen Geschichten von Überlebenden umzugehen, ist emotional sehr schwierig. Ich wusste, dass ich da durchmuss.

Gab es Probleme oder Restriktionen während des Drehs?
Politisch wurden wir nicht attackiert, aber wir hatten von politischen Kräften, die Kriegsverbrecher schützen, viele Barrieren zu überwinden. An den meisten Originalschauplätzen durften wir nicht drehen. Das serbische Verteidigungsministerium musste Genehmigungen unterschreiben, damit uns Panzer zur Verfügung gestellt werden. Natürlich bekamen wir diese nicht. Ich blieb hartnäckig und über persönliche Kontakte erhielten wir zwei Panzer für einen Tag. Einer ging gleich kaputt, wir dachten sofort an Sabotage. Der andere ist nun als alle Panzer im Film zu sehen. Wir haben es lange verheimlicht, dass wir den Film drehen.

In Serbien lief der Film nicht im Kino, oder?
Wir haben es versucht, aber keinen Verleih gefunden. Alle haben sich gefürchtet, den Film zu zeigen. Das ist auch verständlich, wenn die Regierung den Genozid leugnet. „Quo Vadis, Aida?“ war aber auf VOD-Plattformen zu streamen. Und obwohl ich als Filmemacherin leide, wenn sich Menschen einen Film, der fürs Kino gemacht wurde, auf einem kleinen Screen ansehen, hat das dabei geholfen, die Zensur zu umgehen. Der Film war für alle zugänglich, es gab viele wunderbare Reaktionen darauf.

„Quo Vadis, Aida?“ erhielt den Independent Spirit Awards, eine Oscar-Nominierung und viele internationale Preise: Hat der Film etwas in der Debatte verändert?
Viele Menschen wissen nichts über Srebrenica. Als wir den Film 16 polnischen Studierenden zeigten, hatten zehn noch nie davon gehört. Das ist interessant: Es geht um einen Genozid, der in Europa geschah und viele junge Menschen aus Europa wissen nichts darüber. Nach dem Film erzählten mir viele, sie würden nun über diese Verbrechen und den Krieg zu Hause recherchieren. Das ist doch wunderbar!

Es wirkten viele Laiendarstellende bei den Massenszenen mit. Waren Menschen dabei, die die die Julitage 1995 in Srebrenica miterlebt haben?
Wir konnten nicht in Srebrenica drehen, wir drehten bei Mostar. Wir hatten viele Castings, um die Gesichter auszuwählen. Während des Drehs reagierten einige Menschen sehr emotional, etwa, als bewaffnete serbische Soldaten ins Lager kamen. Diese Leute waren zwar nicht in Srebrenica, aber andernorts vom Bosnienkrieg betroffen. Viele waren glücklich, in dem Film dabei zu sein. Für sie war es ein erster Schritt, um das Trauma zu überwinden.

Apropos Gesichter: Man hat den Eindruck, Sie wollten jedem Betroffenen ein Gesicht geben, die Masse aus der Anonymität holen.
Ich arbeite mit der Kamerafrau Christine A. Maier, einer Steirerin. Für uns war klar, diese Masse als Menschen zu zeigen und nicht bloß als Nummern. Natürlich mussten wir die Masse zeigen, um das Ausmaß des Verbrechens verständlich zu machen. Nur die Zahl der Opfer, 8732, sagt nicht viel aus.

Sie haben auf die explizite Darstellung der Exekutionen verzichtet. Warum?
Im Film wird Gewalt oft als Spektakel oder in einer bestimmten Ästhetik dargestellt, das ertrage ich nicht. Ich habe den Krieg in Bosnien erlebt. Krieg ist die Banalität des Bösen. Das wollten wir zeigen. Krieg ist, wenn einer Frau, die in der Küche Essen kocht, in den Rücken geschossen wird und dann ihre Lebensmittel, ihr Hab und Gut gestohlen werden. Es ist der Diebstahl von Eigentum und Leben, es geht um Profit. Krieg wird oft als heroisch porträtiert. Das ist Blödsinn.

Literaturnobelpreisträger Peter Handke hat zuletzt in Serbien und der bosnischen Serbenrepublik hohe offizielle Auszeichnungen entgegengenommen. Wie beurteilen Sie das?
Ich würde gerne mit etwas Praktischem antworten: Noch immer werden rund 1000 Leichen vermisst. Viele Mütter würden ihre Söhne und Männer einfach gerne beerdigen. Menschen, die Peter Handke nun Orden verliehen, wissen, wo diese Massengräber sind. Ich würde sie gerne fragen: Wo sind diese Menschen? Das ist alles.