Sehr geehrte Damen und Herren!

Es ist uns eine außerordentliche Freude, Sie bei der heurigen Diagonale begrüßen zu dürfen! Endlich wieder Kino, könnte man sagen. Endlich wieder Kultur, ließe sich allgemeiner formulieren. Warum eigentlich? Als hätte es in den letzten Monaten keine Kultur gegeben. Als wären wir nicht umgeben von Musik und Texten, Bildern und Filmen. Von Zeichen, Sprachen, Ausdrucksweisen. Als wäre nicht der gesamte Umgang mit der Pandemie und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen eine Frage der Kultur. „Endlich wieder Kultur!“

Eine Parole, mit Blick auf die unerträglichen letzten Monate so richtig – und doch irgendwie vollkommen falsch. Wir möchten dieser Festivalwoche, die gefühlt ewig auf sich warten hat lassen, heuer nur knappe Gedanken voranstellen – Sperrstundenregelung sei Dank. Gedanken, die uns bei der Vorbereitung vielleicht nachdrücklicher begleitet haben als in jedem Festivaljahr zuvor: Im März 2020 musste die Diagonale als eine der ersten großen Veranstaltungen des Landes überhapps und unvorbereitet abgesagt werden. Über die folgenden Wochen und Monate der nach wie vor andauernden Pandemie mit all ihren Tragödien, Zynismen und Zumutungen wurde viel Kluges und auch weniger Erhellendes gesagt, geschrieben, gesprochen. Auf vielfache Art und Weise wurde nicht nur der Kulturbetrieb mitsamt seiner fragilen Grundstruktur zur Kenntlichkeit entstellt. Für viele ist die Situation nach wie vor existenzbedrohend.

Uns allen muss klar sein: So wie es war, wird es nicht mehr werden. Das gilt auch für die Diagonale und das Festival des österreichischen Films mit seiner Einbettung in einen globalen Filmmarkt im Umbruch. Bei aller Euphorie, mit der wir in dieser Woche in die Festivalkinos zurückkehren, ist eines gewiss: Es ist ein erster großer Schritt, bei dem es auch um die Frage gehen muss, welche Rolle Kinos und Filmfestivals künftig einnehmen können. Anders formuliert: Es wird kein Sommer wie damals. Kunst und Kultur habe an Relevanz verloren, wurde vielfach attestiert, die Parole „Ohne Kunst und Kultur wird’s still!“ machte die Runde. Lassen Sie uns an dieser Stelle einen
ersten Gedanken formulieren: Kultur hat nicht an Relevanz verloren. Vielmehr sind wir uns bewusst geworden, dass wir ihre Relevanz nie ausreichend ernst genommen haben. Politisch, gesellschaftlich, auch ökonomisch. Wir scheitern zumeist schon an der Unterscheidung zwischen Kunst und Kultur. Der Kulturbegriff, mit dem gegenwärtig hantiert wird, ist gelinde gesagt naiv. Vielfach wurde in tagespolitischen Äußerungen – und zwar unabhängig jedweder Couleur und mit nur wenigen Ausnahmen – von Kultur als luxuriöse Freizeitbeschäftigung, Hobby, Liebhaberei, im schlimmsten Fall als Lebensmittel, im besten Fall noch als Branche gesprochen. Dabei ist Kultur aber zuvorderst eines: die Summe aller Äußerungsformen, die unser Leben ausmachen.


Sie ist zentral für das Zustandekommen unserer individuellen Geschichten sowie unserer Familien-, Generationen- und Kulturgeschichten. Vielleicht – um mit dem Programm der
Diagonale zu sprechen – beginnen diese im Burgenland und führen möglichweise nach Kuba, sie starten mitunter in Shanghai und führen nach Wien. Kultur ist der Ort, an dem um Herzen und Köpfe gerungen wird, ein Ort, an dem wir unsere Ausdrucksformen reflektieren. Sie dient uns zur Orientierung im zwischenmenschlichen Austausch, zur sozialen Einordnung. Sie prägt unsere Leben und Biografien – sei es in Form eines
nachhallenden Gute-Nacht-Liedes aus früher Kindheit oder als Filmbild, das uns in Träumen und Erinnerungen heimsucht. Kultur ist kein Grundnahrungsmittel, auf das wir im letzten Jahr verzichten mussten. Sie bestimmt unser Zusammenleben und ist dabei per se weder positiv noch negativ, sondern stets beides zugleich.

Das Programm der Diagonale’21 ist ein Wimmelbild, wie in den schönen Kinderbüchern von Ali Mitgutsch. Sie kennen sie vielleicht. Auf denen ist stets viel los, geschäftiges Treiben, eine Vielzahl an kleinen und großen Geschichten, manchmal haben sie miteinander zu tun, manchmal nicht, manchmal sind sie widersprüchlich, mitunter sehr heiter, verstörend, rätselhaft, befremdlich, komisch, freudvoll, allenfalls merkwürdig, bestenfalls berührend. Ein Nebeneinander von Hoch-, Massen- und Alltagskultur. In all dem Dickicht: die Kunst.

Beat- und Anarchoautorinnen, Clowns und eine Buhlschaft. Vom Musikunderground über Berliner Künstlerkaschemmen, in die Wiener Vorstadtunterwelt und von dort auf die Straßen der Motorcity Detroit. Flirrende Leinwandgewitter, endloser Sternenhimmel, um ein paar Motive des Filmprogramms aufzugreifen. Wir möchten Sie endlich wieder
einladen: zum Miteinanderschauen, (Sich-)Anschauen und Zuschauen. Das ist nach einem Jahr der notgedrungenen Vereinzelung und lähmend monothematischen Gespräche nicht nichts. Und schon gar nicht gar nichts. Lassen Sie uns endlich wieder gemeinsam in einem Raum feierliche Ereignisse miteinander teilen. Starten wir also gleich mit der Ehrung einer ganz Großen der heimischen Filmszene: Christine Ostermayer.

Und freuen wir uns im Anschluss auf die Österreichpremiere von Arman T. Riahis grandiosem Spielfilm "Fuchs im Bau". Nicht auf dem Laptop, sondern hier, auf der Leinwand der Helmut List-Halle, im temporär größten Kino Österreichs. In den kommenden Tagen werden 108 Wettbewerbsfilme zu sehen sein, Jessica Hausner wird ihre hierzulande erste Gesamtretrospektive präsentieren, das historische Spezialprogramm dem Zauber und den Verheißungen der Großstadt nachspüren und dabei Fragen zu Heimat und Identität sondieren. Es wird kein normales Festival werden. So viel ist sicher. Aber es ist möglicherweise ein erster Rastplatz auf dem Weg zum Sehnsuchtsort.
Hoffentlich Autogrill!

Die nächsten sechs Tage werden entscheidend sein – zumindest für uns und für Sie hoffentlich auch ein wenig. Willkommen zurück in Graz! Wir wünschen eine quietschfidele Diagonale. Eine Diagonale voller Hamur und Hoffnung.