Sie feiern heute Heiligabend und Geburtstag. Welches Bild drängt sich auf, wenn Sie an diesen Tag denken?
RUPERT HENNING: Ich sehe die Gesichter zahlloser Menschen vor mir, die mich während meiner Kindheit und auch später noch mit einem Ausdruck des tiefen Bedauerns betrachteten, weil sie wohl annahmen, dass ich armer Kerl aufgrund des speziellen Geburtsdatums automatisch um 50 Prozent meines alljährlichen Geschenkevolumens umfalle. Ein Irrtum. Ich bekam immer in der Früh die Geburtstagsgeschenke und am Abend die Weihnachtsgeschenke. Alle Jahre wieder. Meine Kindheit war also auch zu Weihnachten schwer in Ordnung.


Mehr Glück als Pech also?
Ich mochte das „Double“ am 24. Dezember eigentlich immer ganz gerne. Es ist grundsätzlich ein großes Glück, geboren zu werden und auf diesem Planeten auch willkommen zu sein. Immerhin ist das ja keine Selbstverständlichkeit. Das Datum ist letztlich nebensächlich. Pech hat man nur, wenn man nicht willkommen ist – oder gar nicht erst geboren wird.


Worüber freuten Sie sich als Kind?
Ich freue mich auch heute noch wie ein kleines Kind aufs Weihnachtsessen. Es gibt bei uns Kletzennudeln mit brauner Butter – und zwar ausschließlich an diesem einen Abend im Jahr. Weiß der Kuckuck, warum das ein ungeschriebenes Gesetz in unserer Familie ist, aber dadurch kriegen diese fast schon sakralen Charakter.

Folgt dieser Tag im Hause Henning eigentlich einer speziellen Dramaturgie?

Früher war’s so: Am Vormittag gab’s eine kleine Geburtstagfeier für mich, dann ein eher frugales Mittagessen, weil man ja schließlich Platz für das abendliche Kletzennudelfestival lassen musste. Anschließend folgte ein kollektiver Weihnachtsspaziergang, während sich der Weihnachtsbaum auf wundersame Weise von selber schmückte. Am frühen Abend gab’s dann die Weihnachtsfeier mit Geschenkverteilung und der exzessiven Huldigung besagter Kärntner Süßspeise. Danach allgemeine Seligkeit und stilles Verdauen.


Müssten Sie als Drehbuchautor diesen Tag einem Genre zuweisen, welches wäre das?
Weihnachten ist natürlich ein ganz eigenes Genre, weil es ein Tag wie kein anderer ist. Allerdings kann es in manchen Familien durchaus vorkommen, dass das Genre im Laufe des Abends plötzlich wechselt. Kommt auf die Besetzung an, aber die Grenzen zum Drama, zur absurden Komödie, zum Thriller oder gar zum Horror sind bei manchen Leuten bisweilen fließend.


Sie befinden sich in Schreibklausur: Ist das Schreiben in dieser vielfach titulierten „stillen Zeit“ für Sie ein stiller Vorgang?
Schreiben ist bei mir nie ganz geräuschlos, auch nicht in dieser „stillen“ Zeit. Das hat damit zu tun, dass ich währenddessen mit mir selber und mit den erfundenen Figuren rede, die meine Geschichten bevölkern. Ich probiere Dialogzeilen aus, mehr oder weniger in Zimmerlautstärke – und ab und zu ächze ich enerviert vor mich hin, wenn irgendwas nicht so recht gelingen will. Seufzer der Zufriedenheit sind eher seltener. Auf alle Fälle muss wohl jede Person, die mich beim Schreiben belauscht, unzweifelhaft denken, dass ich komplett übergeschnappt bin.

Woran schreiben Sie?
Derzeit an einer Geschichte über eine junge Frau, die ihre beiden Kinder alleine großzieht und schon seit Jahren immer wieder von seltsamen Halluzinationen heimgesucht wird. Sie gibt sich alle Mühe, ihrer Tochter und ihrem Sohn trotzdem eine gute Mutter zu sein, aber es ist durch ihre Krankheit ein ständiger Balanceakt. Es klappt nur mit viel Toleranz, viel Liebe - und vor allem mit viel Humor. Die drei leben in einer kleinen Dachgeschosswohnung - und ihre Geschichte zeigt, dass das Leben auch mitten in der Stadt manchmal ein uferloser Ozean sein kann. Es gibt Augenblicke, da ist die Auftriebskraft unseres Lebenswillens kleiner als seine Gewichtskraft. Dann sinken wir auf Grund und brauchen jemanden, der uns wieder nach oben holt. Darum geht es in diesem Drehbuch, das den Titel „Tiefwassertaucher unterm Dach“ trägt.

Mit welchen Emotionen steuern Sie den Feiertagen in diesem seltsamen Jahr entgegen?
Naja, ich bin natürlich nicht sonderlich fröhlich gestimmt, weil es heuer leider keine Selbstverständlichkeit ist, dass die ganze Familie zusammenkommt. Der Zustand der Welt drückt einem schon aufs Gemüt und das Unwort des Jahres lautet unbestritten "Social Distancing", auch wenn die Vernunft einem natürlich sagt, dass man nolens-volens der weiteren Ausbreitung dieser vermaledeiten Viren etwas entgegensetzen muss. Man geht also auf Distanz und hält der Welt und sich selber die Daumen, dass nach der dunklen Nacht des Jahres 2020 ein heller Morgen kommt und wir alle wieder kontaktfreudiger sein dürfen.


In Ihrem letzten „Tatort: Krank“ inszenierten Sie die Themen Alternativmedizin und Gesundheit beinahe schon als Glaubenskrieg. Wie halten Sie es denn selbst mit der Religion?
Solange sich Religion mit dem Wort Freiheit zu „Religionsfreiheit“ verbindet, bin ich diesbezüglich gelassen. Mit anderen Worten: Ich halte mich an die Menschenrechte und an unsere Bundesverfassung, denen zufolge jeder Mensch glauben darf, woran er möchte, seinen Glauben bei Bedarf wechseln kann oder auch die Freiheit hat, gar keiner Glaubensgemeinschaft anzugehören. Wenn jemand wegen seiner Glaubensentscheidung aber verfolgt oder benachteiligt wird und wenn sich Religionen in Staatsangelegenheiten einmischen, dann geht bei mir ein sehr, sehr lauter Alarm los. Und im Übrigen halte ich persönlich es mit Montesquieu: „Wenn Dreiecke einen Gott hätten, würden sie ihn mit drei Ecken ausstatten.“

Machen Sie sich heuer selbst ein Geschenk?
Keine Ahnung. Ich lasse mich überraschen.

Beehren Sie Kärnten an den Feiertagen?
Ob es dem Land zur Ehre gereicht, wenn ich es betrete, sei einmal dahingestellt. Ich reise ganz sicher in Gedanken in den schönen Süden Österreichs. Ob ich leibhaftig demnächst dort auftauche, entscheide ich wohl noch spontan.


Wie lautet Ihr Wunsch für das neue Jahr?
Weniger soziale Distanzierung. Auch weniger physische Distanzierung. Weniger Viren im Umlauf. Mehr ungebremste Freude am Leben. Aber auch mehr Menschen, die begreifen, dass unsere Biosphäre kein für immer und ewig existierender Selbstbedienungsladen ist, den man ungeniert und ungestraft plündern kann.

Auf welche Projekte von oder mit Ihnen dürfen wir uns denn im nächsten Jahr freuen?
Derzeit ist vieles im Entstehen, die Liste ist ziemlich lang. Ich hoffe, dass alles dazu angetan sein wird, Freude zu bereiten. Ich betreibe zusammen mit meiner wunderbaren Geschäftspartnerin und langjährigen Freundin Isabelle Welter in Wien die „WHee Film“ – und wir produzieren gerade gemeinsam mit Michael Cencigs „Metafilm“ den Kinofilm „Märzengrund“, bei dem Adrian Goiginger Regie führt und der auf einem Text von Felix Mitterer basiert. Es geht um einen jungen Mann in den 1960er Jahren, der in der Wildnis der Berge die bedingungslose Freiheit sucht. Eine sehr berührende und zugleich absolut packende Geschichte, die von wahren Begebenheiten inspiriert wurde.

Und fürs Fernsehen?
Außerdem arbeiten wir an mehreren Stoffen für TV-Serien. Darunter ist zum Beispiel das Projekt „Food“, bei dem es um eine junge Forscherin geht, die mit ihrem Team eine salzwasserresistente Reissorte entwickelt hat, die dem Hunger auf der Erde radikal entgegenwirken könnte. Unversehens gerät sie zwischen die Fronten einer erbitterten Auseinandersetzung: Green Economy gegen Global Player – wer beherrscht unsere Nahrung? Mit Martin Ambrosch schreibe ich an einer Serie mit dem Arbeitstitel „Tivoli“, deren Handlung im Wien um 1900 spielt - einem multi-ethnischen Schmelztiegel, in dem Tradition und Moderne sich zu einer äußerst explosiven Mischung verbinden, ehe ganz Europa in den Ersten Weltkrieg taumelt. Vor dem Hintergrund dieser Zeit extremer sozialer und politischer Spannungen erzählen wir von der Ménage à trois zwischen einem Sozialrebell, einer Volkssängerin und einem hochrangigen Exekutivbeamten, die auf sehr unterschiedliche Weise den Zusammenbruch der alten Ordnung überleben wollen. Nach längerer Zeit arbeite ich auch wieder einmal mit Florian Scheuba zusammen. Wir schreiben an einer Serie namens „What the Fake!“ Dabei geht‘s um eine Gruppe von Leuten, die allesamt Realität und Wahrheit für dehnbare Begriffe halten und als anonymes Kollektiv im Internet solange ein ethisch ziemlich flexibles Influencing betreiben, bis sie die Geister, die sie riefen, nicht mehr los werden. Das Leben kann ja ganz plötzlich wirklicher sein, als einem lieb ist. Außerdem gibt’s Filmprojekte mit Isabel Karajan und Maria Furtwängler und noch eines mit Felix Mitterer, dessen großartiges Stück „Mein Ungeheuer“ ich schon seit vielen Jahren verfilmen will. Wie gesagt – die Liste ist lang. Langweilig wird mir wohl nicht.