Hallo aus Wien, Herr Eidinger!
LARS EIDINGER: Ich liebe Wien! Ich war ja gerade lange da, weil ich mit David Schalko die Miniserie „Ich und die anderen“ gedreht habe. Ich bin ein großer Fan und Bewunderer von ihm: als Mensch und auch als Künstler. Als ich wieder gehen musste, hatte ich richtig Abschiedsschmerz. Für mich ist Wien die schönste Stadt – nach Paris und Taipeh.

Am Freitag startet Ihr neuer Film „Persischstunden“ in den Kinos. Darin gibt sich ein Jude im Zweiten Weltkrieg als Perser aus und kann überleben, weil er einem Hauptsturmführer, den Sie verkörpern, vortäuscht, Farsi zu lehren. In Wahrheit ist es eine Fake-Sprache, gespeist aus den Namen der Lagerinsassen. Der Film feierte seine Weltpremiere auf der Berlinale. Sie gaben ein sehr emotionales Statement ab: über unsere vergiftete Gesellschaft, Hass, Missgunst. Ist dieser Film besonders emotional für Sie?
Ja, ich glaube, das kam nicht von ungefähr. Das hat mit dem Film zu tun, aber auch mit der jetzigen politischen Lage.

Was stimmte Sie so traurig?
Die Erkenntnis, dass der Mensch aus der Geschichte nichts lernt. Dass die Konflikte, denen wir ausgesetzt sind, immanent scheinen und wir sie nicht überwinden können. Auslöser war, dass ich erzählte, dass ich vor ein paar Jahren zu einem Festival nach Amsterdam eingeladen war, wo es um Europa ging. Ich las einen Text von Stefan Zweig, den er unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg vorgetragen hat. Er sagte, es müsste ein Medium geben, das in alle Sprachen übersetzt wird, das sich der Liebe verschreibt und gegen Hass eintritt. Weil Europa aus der Erfahrung dieses Krieges moralisch entgiftet werden müsse. Jetzt gibt es dieses Medium, das Internet. Und wofür wird es genützt? Für das Gegenteil! Für Hass und Missgunst. Das macht mich traurig.
Wie wichtig sind Filme, die an die Nazi-Gräuel erinnern?
Ich finde sie extrem wichtig, aber auch immer wieder gefährlich. Denn im Film läuft man Gefahr, die Geschichte zu verklären, zu verfälschen oder zu verharmlosen. Manchmal ist es sogar falsch, den Anspruch zu erheben, das überhaupt bebildern zu können. Diese Gräuel sind nicht nur unvorstellbar, sondern auch undarstellbar. Deshalb bin ich froh, dass es keine expliziten Darstellungen einer Gaskammer oder einer Hinrichtung gibt und der Film kammerspielartig funktioniert, eher als Fabel oder Metapher. Man darf nicht vergessen: Das ist ja unsere jüngste Geschichte! Mein Vater ist im Krieg geboren, mein Großvater hat im Krieg gekämpft. Ich bin froh, mich in diesem Rahmen meiner Geschichte stellen zu können und zu überprüfen, inwieweit das mich und meine Persönlichkeit bis heute prägt.

Inwiefern hat Ihnen der detailgetreue Nachbau des Lagers oder Ihre Uniform am Set geholfen?
Das hilft schon, ein bisschen gruselt es mich aber auch. Es wurde alles in Weißrussland nachgebaut. Auf den ersten Blick hat es einen Disneyland-Charakter, weil es halt nur aus Pappe ist. Ich bräuchte die realistischen Kostüme nicht. Ich habe kein Bedürfnis nach Authentizität, sondern freue mich eher über eine künstliche Überhöhung oder Verfremdung.


Der Film thematisiert die Macht der Sprache und die Kraft der Erinnerung und gleichzeitig gibt es diese Fake-Sprache, die man hört. Wie ist diese Sprache entstanden?
Nahuel Pérez Biscayart spielt die Hauptrolle, ich kannte ihn bis dahin nur aus einem Film, in dem er Französisch spricht. Ich habe erst später erfahren, dass er ein argentinischer Schauspieler ist, der sich für diesen Film Französisch angeeignet hat. Für „Persischstunden“ hat er Deutsch gelernt. Er hat also offensichtlich eine Hyper-Sprachbegabung. Es war hilfreich, dass er mir diese Fake-Sprache beigebracht hat. Vor dem Hintergrund der Zahl der Menschen, die in Konzentrationslagern im Zweiten Weltkrieg gestorben sind, ist diese Sprache auch ein Versuch, ihnen einen Namen zu geben.

Apropos Hass und Missgunst im Netz. Sie selbst sind sehr aktiv auf Instagram und Co. und versuchen, die sozialen Medien mit anderen Dingen als Hass zu fluten. Welche Intention steckt dahinter?

Ich habe schon ein bisschen den Hang oder die Manie zum Maßlosen, insofern passt der Begriff fluten gut. Die Leute haben teilweise bestimmt das Gefühl, dass es zu viel ist und eben maßlos. Ich habe das Gefühl, mich lieber zurückzuhalten, weil der Output eigentlich noch viel größer sein könnte. Ich habe einfach permanent das Gefühl, mich ausdrücken zu wollen und genieße das auch als meine eigentliche Leidenschaft. Dabei ist eigentlich auch das Medium völlig zweitrangig.


Jemand hat einmal über Sie geschrieben: „Lars Eidinger, der wie kein zweiter Worte und Sprache abschmeckt.“ Welchen Stellenwert spielt bei Ihnen die Sprache bei der Aneignung von Figuren?
Ich freue mich über so ein Kompliment, würde mir das so nicht attestieren. Wenn, dann hätte ich das Faible über Shakespeare gefunden. Ich habe einmal mit dem englischen Regisseur James Macdonald an „Troilus und Cressida“ gearbeitet. Er hat damals zu mir gesagt: „Lars, just the words …“ Das habe ich nicht verstanden. Erst Jahre später, in der Beschäftigung mit „Hamlet“, habe ich begriffen: Er hat recht! Es funktioniert tatsächlich über Worte und über Inhalte. Alles andere passiert so. Mittlerweile übe ich den Beruf schon 30 Jahre lang aus und merke, dass ich immer mehr von dem wegkomme, was einem in der Schauspielschule vermittelt wird: dass man Situationen oder Figuren konstruiert. Es geht darum, sich den Inhalten gegenüber zu öffnen und sich darauf zu verlassen, dass der Körper darauf reagiert. Die Sprache ist immer stärker der Haupt-Impulsgeber dafür, was mit mir emotional passiert.
Wir dürfen uns also auf noch mehr Tiefen und Ekstasen freuen?
(Lacht.) Ja, zumindest habe ich das Gefühl, dass ich mich weiterentwickle. Es erschöpft sich nicht. Im Gegenteil, es gehen noch weitere Räume auf. Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass noch keiner eine Ahnung hat, was eigentlich in mir steckt. Am wenigsten ich selbst. Das ist für mich – als Künstler – eigentlich ein schönes Gefühl.


Das heißt, Sie bezeichnen sich mehr als Künstler denn als Schauspieler?
Ich bin nicht als Schauspieler geboren, habe diesen Beruf eingeschlagen und auch studiert, aber ich möchte nicht nur als Schauspieler wahrgenommen werden. Im Moment bin ich bei Künstler, vielleicht müsste ich auch Mensch sagen, aber das ist wohl ein bisschen seltsam. Bei den Dreharbeiten mit David Schalko musste ich diverse Male zum Coronatest. Bei den Reisen stand immer: „Beruf:“, und ich habe mich zum ersten Mal getraut, Künstler hinzuschreiben.

Und das ist anscheinend auch durchgegangen.

(Lacht) Ja! Was aber auch durchgegangen ist, ist meine Unterschrift. Ich weiß nicht, ob Sie die schon einmal gesehen habe. 

Nein, noch nicht.

Ich habe es in meinem Leben bisher nicht geschafft, mir eine wirklich künstlerische Unterschrift anzueignen und schreibe einfach immer nur meinen Namen hin. Das war gerade einmal in Wien lustig, da haben wir im Museumsquartier „Nora“ gespielt. Theater ist ja ganz anders in Österreich als zum Beispiel in Berlin, besonders in Wien.  Da stehen tatsächlich Autogrammjäger am Hinterausgang. Und ich weiß noch als ich auf eine Postkarte meinen Namen geschrieben habe, hat der Herr gesagt: „Ich hätte es gerne als Signatur!“