Es ist mehr als 62 Jahre her, dass Vincente Minnelli „Vincent van Gogh – Ein Leben in Leidenschaft“ mit Kirk Douglas in der Titelrolle in die Kinos brachte und dafür gefeiert wurde. Anzunehmen, dass auch Sie diesen Film gesehen haben.
JULIAN SCHNABEL: Ja, natürlich. Aber mir ist es lieber, wenn wir nicht darüber reden.

Was unterscheidet Ihre Version von dieser Produktion?
JULIAN SCHNABEL: Schon allein die Herangehensweise. Mein Film ist weder eine Dokumentation noch eine Biografie.

Sondern?
JULIAN SCHNABEL: Ich habe eine Reise in den Körper und Geist dieses beeindruckenden Menschen unternommen, es ist ein Werk purer Imagination. Die Dialoge basieren auf keinerlei Überlieferung, sondern auf seinen Gemälden.

Als Co-Autor holten Sie sich keinen Geringeren als Jean-Claude Carrière, der 19 Jahre lang mit dem großen Luis Buñuel eng zusammenarbeitete?
JULIAN SCHNABEL: Ich bin ein Riesenfan von Buñuel und daher auch von Carrière. Ich kannte ihn nicht, bin ihm erst beim Festival in San Sebastián begegnet, wo eine Doku über ihn lief. Ich erinnere mich genau, was ich sagte, als wir einander vorgestellt wurden. Nämlich: „Du siehst aus wie der Teufel!“ Es vergingen Jahre, bis ich ihn wieder traf. Und dann schlug ich zu. Ich sagte: „Du musst unbedingt mit mir am Drehbuch zu meinem neuen Film arbeiten, es geht um Vincent van Gogh.“ Ich schleppte ihn in eine Ausstellung im Pariser Musée d’Orsay, stellte ihn vor verschiedenste Van-Gogh-Bilder und bat ihn: „Stell dir vor, was der Maler dir jetzt auf dem Weg über sein Bild sagen würde!“ So entstanden viele Dialoge des Films, fern jeder Biografie. Denn die kennt eh jeder. Stattdessen dachten wir uns Szenen aus, die sich so abgespielt haben könnten, aber natürlich in keinem Geschichtsbuch zu finden sind.



Haben Sie sich mit Carrière gleich sehr gut verstanden?
JULIAN SCHNABEL: Vor allem hatte ich die Chance, ihn privat näher kennenzulernen. Er wohnt in jenem Haus in Paris, nahe der Place Pigalle, wo einst Toulouse-Lautrec lebte, mit angeschlossenem Bordell. Auch Stefan Zweig hat dort eine gewisse Zeit verbracht und vieles geschrieben.

Zwei so starke Persönlichkeiten für ein Drehbuch – ist das immer gut gegangen? Hat Carrière das Endprodukt gefallen?
JULIAN SCHNABEL: Anfangs hat er ein paar Mal gemeckert. Doch nun haben wir den Film bereits zum fünften Mal gemeinsam gesehen, und jedes Mal gefiel er ihm besser.



Man kann „An der Schwelle zur Ewigkeit“ wohl auch wie lebendig gewordene Gemälde sehen oder wie eine Symphonie erleben.
JULIAN SCHNABEL: Gut, dass Sie die Musik ins Spiel bringen. Denn für mich ist sie wichtig. Einmal bin ich in Paris in ein Taxi gestiegen, der Fahrer ließ eine Kassette mit Klaviermusik laufen. Ich hörte ihm aufmerksam zu, dann erzählte er stolz: „Der da spielt, ist mein Sohn!“ Ich kaufte ihm die Kassette ab. Und für meinen Film „Basquiat“ habe ich genau diese Musik verwendet. Hier war es anders. Die Musik entstand schon vorher. Die Ukrainerin Tatiana Lisovskaya hat sie komponiert, und auch sie musste sich vorher Gemälde von van Gogh anschauen. Ihre Musik entführt uns in die Klangwelt von van Goghs Kopf.

Regisseur Julian Schnabel
Regisseur Julian Schnabel © (c) APA/AFP/CHRISTOPHE ARCHAMBAULT (CHRISTOPHE ARCHAMBAULT)



Was hat sich im Verlauf der Arbeit am Drehbuch bei Ihnen beiden geändert?
JULIAN SCHNABEL: Unser Ausgangspunkt wurde zusehends die Frage, wie sehr sich van Gogh in den letzten Jahren seines Lebens bewusst war, dass er eine neue Version der Welt hatte und nicht wie andere berühmte Kollegen malte – genau das wollten wir zeigen.

Willem Dafoe spielt die Hauptrolle. Eine ganz eigene Sache?
JULIAN SCHNABEL: Sie meinen, dass van Gogh 37 Jahre alt war, als er starb, und dass Dafoe 63 ist? Das entpuppte sich nur im ersten Moment als Diskrepanz. Denn van Gogh sah schon in jungen Jahren sehr ausgezehrt und mitgenommen aus. Willem hat das großartig hingekriegt, und kein Mensch würde, nachdem er den Film gesehen hat, eine Frage nach dem Alter stellen.

Selbstporträt von Vincent van Gogh
Selbstporträt von Vincent van Gogh © (c) AP (Victoria Jones)



Wäre dieser Film ohne Willem Dafoe überhaupt möglich gewesen?
JULIAN SCHNABEL: Nein. Doch wir fanden sehr leicht zueinander. Als er nämlich erfuhr, dass ich einen Van-Gogh-Film drehen wollte, ließ er mich schnell wissen: „Ich muss dabei sein!“ Und er hatte mein vollstes Vertrauen. Vertrauen ist ein großes, wichtiges Wort. Denn Schauspieler spüren das.

Einfach haben Sie es ihm jedoch nicht gemacht.
JULIAN SCHNABEL: Jean-Claude Carrière und ich haben uns immer wieder aufgerafft, an Plätze zu fahren, wo van Gogh gewirkt hatte. Dort entstanden viele Dialoge. Also hat sich auch Willem die Mühe machen müssen, durch Besuch der Schauplätze – plus Lektüre – in das Unternehmen einzusteigen. Und ich ordnete auch an, dass er regelmäßig Kleidung und Schuhe wie van Gogh tragen sollte. Und natürlich gab ich ihm auch Unterricht im Malen, wobei nicht nur wichtig war, wie man einen Pinsel hält. Willen sollte auch lernen, was van Gogh besonders auszeichnete: das SEHEN.



Andere hatten es bei Ihnen auch nicht leicht. Etwa Kameramann Benoît Delhomme?
JULIAN SCHNABEL: Sie spielen darauf an, dass ich ihn nach Schottland schickte, um ein Weizenfeld zu filmen, weil es bei uns zu dieser Jahreszeit nicht mehr möglich war. Ja, und ich bat ihn, dabei auch die Klamotten von van Gogh und dessen Strohhut zu tragen und so zu filmen, als ob er selbst van Gogh wäre. Und ich muss sagen: Benoît hat einen tollen Job gemacht. Auch, als ich ihm auftrug, ein Feld mit toten Sonnenblumen so abzulichten, als ob es menschliche Wesen wären.