Zu Beginn des deutschen Berlinale-Wettbewerbsbeitrags "Systemsprenger" stellt sich die Frage, wie er 118 Minuten lang die Darstellung eines tobenden, alles zerstörenden, kratzenden und beißenden Kindes durchhalten will. Doch er kann es, vielmehr versteht man die heftigen Ausbrüche des Kindes immer besser. Ein starker Film der deutschen Regisseurin Nora Fingscheidt gleich zu Beginn des Festivals.

Vielen wird der Begriff "Systemsprenger" bis zu diesem Film nicht geläufig sein. Es handelt sich um Menschen, die Regeln nicht akzeptieren, sich nicht einordnen wollen. Die neunjährige Bennie (Helena Zengel) kann und will das nicht. Sie will nur zurück zu ihrer Mutter, die von ihrer Lebenssituation völlig überfordert ist. Immer, wenn Bennie in ein neues Heim, zu neuen Bezugsmenschen gesteckt ist, erfolgt ein neuer Ausbruch.

Regisseurin Nora Fingscheidt
Regisseurin Nora Fingscheidt © APA/AFP/TOBIAS SCHWARZ

Eine Neunjährige überfordert ihr Umfeld

Erzieher, Betreuer und Amtsvertreter sind alsbald ebenso überfordert wie die eigene Mutter. Dabei möchte Bennie nur Geborgenheit, die schützende Nähe der Mutter, die von dieser aber nicht gewährt werden will und kann. Marc, sonst zuständig für harte Fälle erwachsener Jugendlicher, den Bennie erst nur wie alle anderen, "Erzieher" nennt, erkennt, dass das herumgeschobene Kind in erster Linie Ruhe braucht und zieht mit ihm für drei Wochen in eine einsame Waldhütte in der Lüneburger Heide.

Bennie sucht Geborgenheit

"Das sind die schönsten Ferien, die ich bisher hatte", ruft Bennie nach anfänglichem Eingewöhnugstrotz. "Das sind keine Ferien, das ist eine Erziehungsmaßnahme. "Dann ist es die schönste Erziehungsmaßnahme." Bennie ist es egal, wie die Dinge genannt werden, wenn sie nur Geborgenheit erleben darf. Die kann auch eine raue sein.

Die fürsorgenden Worte der amtlich verordneten Betreuer prallen hingegen meist an ihr ab. Ein teuflischer Kreislauf entwickelt sich, immer wieder hat sich Bennie nicht unter Kontrolle, kapitulieren die Bezugspersonen, zu denen sie gerade mühsam Vertrauen aufgebaut hat. Ausbrüche, die nicht nerven, sondern an die Nieren gehen, weil man dem Kind endlich Ruhe und Glück gönnen möchte.

Schon eine Bären-Favoritin?

Das alles hat Nora Fingscheidt mit großem Einfühlungsvermögen eingefangen, niemand ist nur gut oder böse, es werden keine Schuldzuweisungen erteilt. Großartig ist die kleine Helena Zengel, der man schon gleich zu Beginn einen Bären für die beste Darstellerin zugestehen möchte. Wie in ihrem Gesicht gleichzeitig Zorn, Verzweiflung, entfesselte Zerstörungswut, aber auch grenzenlose Freude, Sehnsucht und Betretenheit über die eigenen Taten entstehen können, das schafft dieses Mädchen auf großartige Weise.

Keine "Schubladen-Erklärungen"

"Etwas, was mich persönlich interessiert, mischt sich mit dem, was gesellschaftlich relevant ist", sagte Regisseurin Fingscheidt bei der Pressekonferenz nach der ersten Vorführung des Films am Freitag. "Durch den häufigen Wohnortswechsel entsteht ein Strudel", der dieses auffällige Verhalten begünstige. Man habe bewusst ein Mädchen vor der Pubertät gesucht und als Ort keine Großstadt, um "Schubladen-Erklärungen" zu vermeiden.