Cannes hatte die Kontroverse, Venedig hat die Filme. Nicht nur „22 July“, Paul Greengrass’ Aufarbeitung des Breivik-Massakers, wird auf der 75. Ausgabe des Festivals laufen. Auch Alfonso Cuarón zeigt mit „Roma“ sein erstes Werk seit dem späteren Oscar-Abräumer „Gravity“ mit Sandra Bullock, der in Venedig vor mittlerweile fünf Jahren Premiere feierte. Das Schwarzweißdrama markiert die Rückkehr des gefeierten Regisseurs in seine Heimat Mexiko und zu kleineren, persönlicheren Werken.

Sowohl „22 July“ als auch „Roma“ sind Produktionen des Streaming-Dienstes Netflix. Der hatte im Frühling in Cannes für Furore gesorgt, als er dort nach dem Wettbewerbsausschluss von Streaming-Filmen ohne Kino-Einsatz prompt das Programm boykottierte. Venedigs Festival-Chef Alberto Barbera hat diesbezüglich offensichtlich einen sehr viel pragmatischeren Zugang als die Kollegen in Cannes. Fast hat man den Eindruck, es hätte die ganze Debatte um Streamingproduktionen und die Zukunft des Kinos gar nicht gegeben.

Nicht wegdiskutieren lässt sich dabei: Immer mehr hochkarätige Autoren arbeiten inzwischen ausschließlich für Streaming-Anbieter. Sogar „The Ballad of Buster Scruggs“ der Coen-Brüder Joel und Ethan („No Country For Old Men“) war eigentlich als episodische Western-Serie geplant. Nun ist daraus ein episodischer Spielfilm mit illustrer Besetzung von James Franco über Liam Neeson bis Tom Waits geworden. Als einer von 21 Beiträgen konkurriert „Buster Scruggs“ im Wettbewerb um den Goldenen Löwen.

Zur Jury gehören heuer unter anderem Christoph Waltz und Naomi Watts. Den Vorsitz hat der letztjährige Festival-Gewinner und Regisseur von „The Shape of Water“, Guillermo del Toro. Das Programm von Festival-Chef Barbera profitiert diesmal aber nicht nur von Cannes’ Kampfansage an Netflix. Der Italiener hat hartnäckig daran gearbeitet, das älteste Filmfestival der Welt wieder zu großem Glanz aufzupolieren. Unter seiner Leitung hat es wieder deutlich an Strahlkraft und Bedeutung gewonnen – vor allem als Premierenplattform für spätere Oscar-Kandidaten und Marketing-Sprungbrett für die sogenannte Awards-Season.

„Gravity“, „La La Land“, „Spotlight“, „The Shape of Water“, sie alle gehörten in den letzten Jahren zu den Wettbewerbsbeiträgen, die später mit Auszeichnungen überschüttet wurden. Das diesjährige Programm könnte diese Reihe fortsetzen und ist mit Siegeskandidaten vollgepackt wie seit langer Zeit kein Venedig-Jahrgang. Nach seinem Triumph mit „La La Land“ kehrt zur Eröffnung Damien Chazelle mit „First Man“ ("Aufbruch zum Mond") auf den Lido zurück, einer Biografie des US-Astronauten Neil Armstrong mit Ryan Gosling als erstem Mann auf dem Mond. Julian Schnabel, selber Maler mit Ausflügen hinter die Kamera, inszeniert in „At Eternity’s Gate“ Willem Dafoe als Vincent van Gogh.

Abgesehen von der starken Präsenz der USA sind vor allem europäische Regisseure in der Löwen-Konkurrenz vertreten. Überwiegend handelt es sich dabei um renommierte Autoren wie Olivier Assayas, Jacques Audiard und Mike Leigh, aber auch um jüngere Lieblinge des Festivalkosmos wie László Nemes („Son of Saul“). Luca Guadagnino sorgt für ein Kontrastprogramm zu seiner im Vorjahr gefeierten Coming-of-Age-Geschichte „Call Me By Your Name“. Der Italiener drehte mit „Suspiria“ ein Remake von Dario Argentos gleichnamigem Horror-Klassiker mit Dakota Johnson und Tilda Swinton in den Hauptrollen. Der Deutsche Florian Henckel von Donnersmarck, Oscar-Preisträger für „Das Leben der Anderen“, spiegelt in seinem Künstlerporträt „Werk ohne Autor“ deutsche (Kunst-)Geschichte von den 1930ern bis in die 70er Jahre.

Außer Konkurrenz zeigt derweil Bradley Cooper sein Regiedebüt, ein Remake des Musicals „A Star is Born“, mit sich selbst und Lady Gaga in den Hauptrollen. Und auch Mel Gibson könnte am Lido auftauchen. Mit Vince Vaughn stand er für den Krimi „Dragged Across Concrete“ vor der Kamera. Ob das Programm heuer wirklich so grandios ist, wie es sich liest, weiß man dann Ende nächster Woche. Ob Barbera wieder ein Oscar-Händchen hatte, allerdings erst in ein paar Monaten.