Eigentlich hätten vor wenigen Tagen die Proben zu seinem neuen Stück im Theater Halle 11 beginnen sollen. Die „Belle Epoque“ (so der Titel des Dramas) endete aber, bevor sie begonnen hatte – durch die wenig schöne „Epoche“ der weltumspannenden Epidemie. „Sie wird schon wiederkommen, die Belle Epoque“, meint Alexander Widner, „Es war aber eh eine unrühmliche Zeit. Die Belle Epoque gab es nur für die oberen Zehntausend, die anderen hatten einen Dreck!“ Dennoch provoziert die Ironie des Zusammentreffens von Stücktitel und aktuellem Zeitgeschehen ein vorbeihuschendes Lächeln in der Stimme des ewig grantelnden Poeten.

Im kommenden Herbst wird er 80 Jahre alt – „was mich ziemlich graust“. Eine noch größere Abneigung als gegen das Altern hegt der Schriftsteller aber gegen das Geschwätz der Welt, gegen Geschwafel, „Kalenderspruchathleten“ und Wortklingler. Dicke (Buch-)Wälzer sind ihm zuwider: „Wer so dicke Bücher braucht, um etwas zu sagen, hat gar nichts zu sagen!“ Die Bücher von Philosophen und Autoren, die ihm etwas bedeuten, sind allesamt dünn. So wie Albert Camus „Pest“, die er aus gegebenem Anlass gerade wieder gelesen hat, oder Jean Paul: „Der ist grandios, hat Witz und sagt auf den 77 Seiten des „Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz“ alles!“


Auch Widner selbst lässt keine „Schwarten“ auf seine Leser los. Jüngstes Beispiel: „Bloße Anwesenheit“, ein 128 Seiten starkes Kompendium voll weiser Betrachtungen, lapidarer Sentenzen, kluger Aphorismen. Aber auch voll Todesfurcht und Lebenstrieb, Wehmut und (Selbst-)Zweifel: „ Habe Bedenken. Gegen mich. Und von da aus gegen alles.“
Sieben tagebuchähnliche Bücher lang hat er „Anmerkungen zur mir bekannten Welt gemacht“, meint er im Gespräch. „Jetzt bin ich müde. Das, was wir als Wahrheit bezeichnen, gibt es nicht. Das ist nur eine arrogante Form einer anderen Wirklichkeit.“ Auch die täglichen Aufzeichnungen der letzten Jahre würden locker ein Buch von 600 Seiten ergeben. „Ich schmeiße zwei Drittel weg, möchte nicht den fetten Leib, sondern das Gerippe, das Skelett der Dinge.“ Aus diesem Konzentrat schaut dem Leser ein uneitler, humorvoller und (selbst-)kritischer Zeitgenosse entgegen, der sich alles Bedeutungsschwangere verbittet: „Hier, Zeile um Zeile, handelt es sich um Clownerien, nicht um das Festlegen von Er- oder gar Bekenntnissen. Wie in allen Schriften zu allen Zeiten. Und ist das Gesicht noch so ernst, es ist das Gesicht des Clowns.“

Nur bei Musik bleibt Alexander Widner „das Maul offen“, wie er notiert. Und an anderer Stelle: „Gäbe es keine Musik, bräuchte ich auch keine Jahreszeiten, kein Buch, keinen Sternenhimmel, keine Zigaretten und keine Unterhosen.“ Neben der Musik sind es vor allem seine zwei Enkelkinder, die ihm Freude machen. Der Kummer wegen der Kontaktsperre zu Ostern ist groß – „Kinder, nur Kinder, haben die Fähigkeit, in Trübsinn ein Loch zu schlagen“.
In seinen Anmerkungen mache er sich auf die Suche nach dem Sinn, sagt er. „Im Drama gebe ich allerdings bekannt, dass der Sinn nicht vorhanden ist. Das dient nur zur Unterhaltung.“ Also ist auch „Belle Epoque“ eine „zutiefst menschliche Farce für Volk und Sabberland in sieben Szenen“ geworden. Absurdes Geblödel, nicht ohne eingestreute Skepsis vor zu vielen Worten: „Wir erstarren in Ehrfurcht vor dem Wort. Und dann erstarrt das Wort. –Gehenkt am Wortgalgen.“