Frau Stundyte, wie ist das, sich für diese Elektra intensiver als üblich vorbereiten zu können?

Aušrinė Stundytė: Es ist fantastisch, und ich denke, man müsste das überall und immer so machen. Ich merke sogar nach einem ganzen Jahr intensiver Vorbereitung, dass ich noch immer was zu lernen habe, dass noch immer nicht alles so ist, wie ich es will. Ich wünschte, bei jeder Produktion gäbe es so eine Intensität.

Wie hat die Vorbereitung im Detail ausgesehen?

Aušrinė Stundytė: Franz Welser-Möst und ich haben uns insgesamt vier Mal getroffen verteilt auf das ganze Jahr, und jedes Mal haben wir superdetailliert gearbeitet, sodass wir nur durch ein Drittel des Stücks überhaupt durchgekommen sind. Wir haben wirklich an einer Phrase, an einem Wort, 15 Minuten verbracht, bis die richtige Farbe gefunden war. Er hat mir auch erklärt, wie Richard Strauss in der Orchestrierung sehr oft die wahren Emotionen und Gedanken von Elektra versteckt hat. Das finde ich wahnsinnig spannend und auch sehr hilfreich. Diese Menge an Information muss allerdings erst einmal verarbeitet und gespeichert werden. Deswegen war es notwendig, genug Zeit zu haben.

Welche speziellen Herausforderungen hat die Elektra? Was ist der Schlüssel zur Figur?

Aušrinė Stundytė: Ich muss ehrlich sagen, ich fühle mich ihr sehr nahe. Es gibt jedoch ein anderes Level für mich, in dem ich die Figur auch körperlich fühle. Da bin ich noch nicht. Es ist sehr klar, dass es keine gemeine, blutdurstige, teuflische Figur ist. Wenn ich etwas für Elektra empfinde, dann ist das Mitleid und Schmerz. Es ist eine gebrochene, schmerzende Seele. Und das ist es auch, was wir in dieser Produktion versuchen näherzubringen. Elektra ist weniger durch ihre Rachsucht bestimmt, sondern durch ihr Gerechtigkeitsgefühl. Das ist der einzige Grund, warum sie überhaupt noch lebt. Ihre Liebe zum Vater ist eine allumfassende. Deswegen muss sie auch ihr letzte Pflicht ihm gegenüber erfüllen.

Sie haben in Interviews immer wieder über Tier-Analogien gesprochen, sich selbst etwa mit einem Waschbären verglichen: grundsätzlich verträglich und anschmiegsam, aber auch in der Lage, seine Krallen auszufahren. Haben Sie ein Tier für Elektra gefunden?

Aušrinė Stundytė: Tierbilder helfen unglaublich, eine physische Annäherung für eine Rolle zu finden. Mein erster Gedanke bei Elektra war ein schwarzer Puma. Und im Probenverlauf hat sich das nicht geändert. Das ist das Tier von Elektra.

Was sagt Welser-Möst dazu?

Aušrinė Stundytė: (lacht) Sie sind der Erste, der das hört. Ich habe das noch niemandem gesagt.

Wenn man sich Ihr Repertoire anschaut, dann gibt es viele außergewöhnliche Rollen, die im 20. Jahrhundert geschrieben wurden. Reizt Sie die Vielschichtigkeit, die die Eindimensionalität der Tradition überwindet?

Aušrinė Stundytė: Absolut. Ich finde, ich selbst entspreche nicht unbedingt dem Standard. Ich bin weder Standard-Sängerin noch Standard-Frau. Dennoch musste ich in meinen ersten Karriere-Jahren häufig das süße Weibchen singen. Niemand hat mir das geglaubt.

Wie weit mussten Sie sich als Frau des 21. Jahrhunderts dabei selbst verleugnen?

Aušrinė Stundytė: Das war schon ein innerlicher Kampf. Ich kann nicht das darstellen, woran ich nicht glaube. Damit habe ich echt Probleme.

Der Opernbetrieb ist weiterhin männlich dominiert. Wie weit haben sie auch dagegen revoltieren müssen? Durch die #MeToo-Bewegung ist ja viel offenkundig geworden, das früher unter den Teppich gekehrt wurde.

Aušrinė Stundytė: Erstaunlicherweise war ich davon nie betroffen. Vielleicht liegt das an meiner Ausstrahlung. Ich wurde nie belästigt oder in irgendwelche Situationen gebracht. Dabei war ich nie eine starke Feministin. Ich mag Männer, ich liebe Männer. Die beiden Geschlechter sind unterschiedlich, jedes hat seine Stärken und Schwächen, aber wir sind beide gleich wertvoll in unserer Unterschiedlichkeit. Aber wenn ich an diese Weibchen-Klischees denke, die vor 50 Jahren selbstverständlich waren, denke ich doch: Gott sei Dank, dass ich jetzt lebe und nicht früher. In meiner idealen Welt unterscheidet man nicht nach Geschlecht, sondern nach Fähigkeiten. Deswegen bin ich auch gegen Geschlechterquoten.

Zurück zu "Elektra": Wann wurden Sie damit konfrontiert, was Regisseur Krzysztof Warlikowski vorhat?

Aušrinė Stundytė:Wir hatten zu Coronazeiten ein Gespräch darüber, wie er sich das vorstellt. Er hat mir ein allgemeines Gefühl gegeben, dass er Elektra nicht als Kampfkillerin darstellen möchte, sondern das Weibliche, das Zerbrechliche, das Schwache in ihr betonen möchte. Ich fand das gut in dem Sinne, dass die schönen Momente der Musik besser ausgekostet werden können - denn je mehr man sich mit diesem Stück beschäftigt, desto mehr sieht man nicht ihre Aggressivität und Lautheit, sondern ihre Schönheit. Jetzt, wo ich das spiele, merke ich allerdings, dass es sehr schwer ist, die Elektra mit einer Schwäche im Inneren zu singen.

Der schwarze Puma wäre dann ein kranker Puma?

Aušrinė Stundytė: Genau. Also dosieren wir die Schwächen sehr. Äußerlich bekomme ich in dieser Produktion das Aussehen eines Mädchens. Innerlich gewinnt aber doch Strauss gegen Warlikowski. (lacht)

Haben Sie nicht bei einer Warlikowski-Inszenierung der "Lady Macbeth von Mzensk" in Paris durch einen Unfall einen Teil Ihrer Zehe eingebüßt?

Aušrinė Stundytė: Ich glaube, das war eine sehr interessante Erfahrung für uns beide. (lacht) Ich hatte ein bisschen Angst, er würde nun überprotektiv sein, aber das ist er nicht, Gott sei Dank. Ich darf wieder barfuß laufen. Ich liebe es, auf der Bühne barfuß zu laufen!

Ganz offenbar sind Sie eine Sängerin-Schauspielerin, die sich rückhaltlos einbringt in ihre Rollengestaltungen?

Aušrinė Stundytė: Ich hatte immer den Wunsch nach einem echten Musiktheater. In Litauen hatten wir immer nur furchtbar klassische Operninszenierungen. Egal, wie schön das sein kann, ich wusste immer: Ich will mehr.

Folgen Sie Regisseuren, die sehr frei mit dem Material umgehen, relativ bedenkenlos, oder stoßen Sie da manchmal auch an Ihre Grenzen?

Aušrinė Stundytė: Eigentlich mag ich die Tatsache, dass die Opern neu gedacht werden. Ich denke, man will doch nicht 50 Mal das Gleiche sehen. Natürlich kann das manchmal auch schief laufen, und dann ist es auch für mich als Sängerin und Darstellerin schwer. Ich streite nicht gerne, daher grüble ich dann für mich im stillen Kämmerlein, wie ich das lösen könnte. Und das klappt nicht immer, das stimmt.

Wie ist es derzeit, unter erschwerten Coronabedingungen zu proben?

Aušrinė Stundytė: Für uns Sänger hat sich nicht viel geändert. Wir achten sehr auf unsere Außer-Gruppen-Kontakte. Das Festspielhaus selbst ist, glaube ich, heute der sicherste Ort in Europa - alle tragen Masken, alles wird desinfiziert, das ist sehr, sehr streng. Es gibt eine andere Herausforderung für mich, das ist der Druck der Verantwortung. Man weiß, diese Festspiele sind quasi die einzigen, die stattfinden. Von hier aus senden wir eine extrem wichtige Nachricht in die Theaterwelt - hoffentlich eine positive, die zuversichtlich stimmt.

Ihre Kollegin Asmik Grigorian, die vor zwei Jahren als Salome in Salzburg eine Sternstunde erlebte, singt an Ihrer Seite die Chrysothemis. Sie sind beide in Vilnius geboren und nur fünf Jahre auseinander...

Aušrinė Stundytė: Und wir hatten dieselbe Lehrerin, wir sind quasi aus der selben Klasse. Das ist schon ziemlich phänomenal und auch für unser Land ganz toll.

Haben Sie sich schon darüber ausgetauscht, wie das ist, wenn die Salzburger Festspiele zum Katapult einer Karriere werden?

Aušrinė Stundytė: Ich sehe das nicht als Katapult für meine Karriere. Ich wollte einmal in meinem Leben eine Elektra singen, und jetzt gibt es die Möglichkeit. Natürlich ist das hier ein enormer Druck und eine große Verantwortung. Es klingt unwahrscheinlich, aber zwischen Asmik Grigorian und mir gibt es überhaupt keine Konkurrenz, es ist vielmehr ein schwesterliches Verhältnis.

Wie sehr hat der Coronashutdown Ihre Pläne durcheinandergewirbelt?

Aušrinė Stundytė: Ich bin glücklicher als viele anderen Kollegen, weil ich jetzt singen darf. Die nächste Produktion, "Frau ohne Schatten" in Stuttgart, ist allerdings wieder abgesagt. Wie alle Freischaffenden bewege ich mich derzeit auf dünnem Eis. Ich habe ich schon angefangen zu überlegen, was ich noch tun könnte. Aber ich scheine für nichts zu taugen. Alles, was mich sonst interessiert, ist genauso wenig geeignet für schlechte Zeiten.

Haben Sie Existenzängste?

Aušrinė Stundytė: Nein, und ich hatte auch keine Existenzängste in der Coronazeit. Aber natürlich bin ich in einer Luxusposition: Ich habe keine Schulden, ich habe keine Kinder, somit bin ich nicht unter einem so extremen finanziellen Druck. Natürlich weiß ich, dass ich nicht bis zur Rente singen werde. Früher oder später muss ich was anderes lernen, das ist auch okay. Und ich muss zugeben: Eigentlich habe ich diese Ruhe sehr genossen. Ich konnte mir endlich jene Zeit nehmen, die man sonst nie hat, weil man unter Druck steht, all' diese Angebote anzunehmen. Was ich gelernt habe: Man muss nicht so viel tun.