Seit Mittwoch dürfen die Theater wieder spielen. Die Lockerung war überfällig, meint Burgtheater-Direktor Martin Kušej, zumal längst belegt sei, dass von Theatern mit ihren Sicherheitskonzepten keine Gefahren ausgehen. Seit Herbst 2019 leitet der Kärntner Slowene das größte deutschsprachige Sprechtheater. Viel hat er seither von „seiner“ Burg noch nicht zeigen können.

Sie durften Ihr Theater nach sechseinhalb Monaten Lockdown am Mittwoch wieder aufsperren – waren Sie beim Neustart eher skeptisch oder euphorisch?
MARTIN KUŠEJ: Das Euphorische überwiegt. Der Wunsch nach gelebter Freiheit ist wahnsinnig groß. Auch, weil die Verhältnismäßigkeiten zwischen den Maßnahmen und dem, was die Statistiken aussagen, nicht mehr verständlich sind. Es ist mehrfach wissenschaftlich belegt, dass von Theatern und anderen Kulturveranstaltungen mit ihren Sicherheitskonzepten keine Gefahren ausgehen.

Sie fühlten sich nicht wertgeschätzt von der Politik?
Wir sind in gutem Austausch, aber ich habe mich in den letzten Monaten oft darüber geärgert, dass wir die ganze Zeit im Stand-by-Modus sein sollten und wieder und wieder Pläne für eine jeweils kurzfristige Öffnung erarbeiten mussten.

Sie haben, im Gegensatz zu manchen anderen, diesen Ärger auch artikuliert.
Wir sind ein großer Betrieb, da ist es notwendig, dass man umsichtig und nicht populistisch agiert. Ich habe versucht, dann das Wort zu erheben, wenn ich es für sinnvoll erachtet habe, und auch den freischaffenden Künstlern und Künstlerinnen, denen es wirklich dreckig ging, eine zusätzliche Stimme zu geben. Ich vermisse die Solidarität in gewissen Bereichen unserer Gesellschaft massiv. Leute, die ihre individuellen Probleme über die Sorgen der Mehrheit stellen – Querdenker, Impfgegner, Testverweigerer – sind mir wirklich rätselhaft.

Sie haben in Ihren ersten beiden Spielzeiten bisher nicht mehr als sechs Monate Spielbetrieb gehabt. Was macht das mit den Plänen, die man mitbringt, was hat es mit Ihnen gemacht?
Als Künstler und Regisseur bin ich auch durch Gefühlszustände gegangen, die mir bisher fremd waren. Ich bin jemand, der sich alle paar Wochen durchschüttelt und sagt: Ich will jetzt alles neu machen, Kraft tanken, optimistisch sein. Das fiel mir sehr schwer in der Zeit. Teilweise war ich wie gelähmt. Aber es hat gutgetan, sich darüber mit anderen auszutauschen. Hat man halt kein Buch geschrieben, kein Album aufgenommen, kein Stück inszeniert. Ich hätte das damals wirklich nicht gekonnt, und das hat mich gewundert, weil ich normalerweise sehr aktiv bin.

Was hat Sie wieder aufgemuntert?
Freunde, Natur, Vorbildfunktion für andere …

Kušej über das Wiener Publikum: "Wir wissen, dass sich sehr viele Zuschauerinnen und Zuschauer wahnsinnig darauf freuen, wieder ins Theater gehen zu können. Da ist Wien verlässlich."
Kušej über das Wiener Publikum: "Wir wissen, dass sich sehr viele Zuschauerinnen und Zuschauer wahnsinnig darauf freuen, wieder ins Theater gehen zu können. Da ist Wien verlässlich." © Akos Burg

Glauben Sie in Anbetracht der Lage daran, dass es bald wieder Vollbetrieb am Theater gibt?
Als Optimist, der ich ja doch bin, würde ich sagen: Ja. Aber ich glaube, es muss sich unser Umgang mit der Pandemie insgesamt verändern. Wir haben bisher mit den immer selben Mitteln auf sie reagiert, ich sehe noch nirgends den Paradigmenwechsel, bei dem es darum geht, mit dem Virus leben zu lernen. Immer wieder Lockdown ab einer Inzidenz von 100 ist keine Lösung.

An das Theaterpublikum glauben Sie?
Absolut. Wir wissen, dass sich sehr viele Zuschauerinnen und Zuschauer wahnsinnig darauf freuen, wieder ins Theater gehen zu können. Da ist Wien verlässlich.

Anfang Juni stellen Sie Ihre nächste Saison vor. Ohne Verschiebungen, mit vollem Programm?
Ja, wir planen unsere dritte Spielzeit und fangen am 5. September mit meiner Inszenierung von „Maria Stuart“ an, die ich jetzt auch gerade für die Salzburger Festspiele vorbereite. Mit dem Stück bin ich jetzt durch die Verschiebungen eineinhalb Jahre beschäftigt und musste das Konzept immer wieder verändern.

Was meinen Sie, warum die angeblich systemrelevanten Künste so schnell im Off waren?
Das ist ein etwas unglücklicher Begriff, auf dem jetzt wahnsinnig herumgeritten wird. Die Fakten zeigen, wie groß die Summen sind, die durch den Kulturbereich bewegt werden, wie viele Arbeitsplätze und welche Rückfinanzierungen es gibt. Da kommt man drauf, dass etwa in Deutschland Umsätze und Erlöse in Kunst, Kultur und Unterhaltung höher sind als in der Automobilindustrie. Und doch geht es um viel mehr: Die Kunst ist ein unabdingbarer Teil der Gesellschaft. Nicht umsonst stehen die Theater an den zentralen Plätzen. Dort, wo auch Kirchen, Rathäuser, Museen, Spitäler stehen. Das ist schon immer mein absolutes Credo gewesen: Die Kunst hat eine ganz spezielle Wirkung auf uns. Wir brauchen sie für die Reflexion oder als Zufluchtsort jenseits von Religion oder Medizin oder Politik. Deswegen finde ich es auch extrem bedenklich, wie wenig Raum Kunst, Musik oder auch Handwerkliches in der Erziehung unserer Kinder bekommt.

Weil es den Boden dafür bereitet, dass die Künste nicht wichtig genommen werden?
Es müsste in jedem verankert sein, dass die Künste ein zentraler Bestandteil von Zivilisation sind. Das Gleiche gilt für Demokratie und Freiheit, und ich bin zutiefst beunruhigt, wenn ich sehe, wie aufgeweicht Demokratieverständnis und Humanismus sind aufgeweicht, wie Antifaschismus geradezu peinlich wirkt. Dabei sehe ich in diesem Bereich die größte Gefahr – und wundere mich darüber, dass es die sogenannte „Linke“ bei einem Fokus auf Gender-Sternchen und Identitätspolitik belässt, während uns ein gewaltbereiter Nationalismus zu überrollen droht.

Sie selbst sind angetreten mit dem Anspruch, ein Theater zu machen, das für Diversität, Vielsprachigkeit, Vielkulturalität steht. Hat Corona das jetzt alles abgeräumt?
Diesen Anspruch haben wir weiterhin. Natürlich haben die Beschränkungen der Pandemie auch Auswirkungen auf uns. Aber die Entwicklung zu mehr Diversität und Internationalität muss langfristig gedacht werden und organisch erfolgen.

Das Burgtheater als Nationaltheater Europas, wie Sie das proklamiert haben, ist derzeit unvorstellbar.
Es ist richtig, dass wir durch die Pandemie mit dem künstlerischen Konzept, das wir aufgesetzt haben und das in den ersten Monaten meiner Direktion extrem gut funktioniert und Lust auf Zukunft gemacht hat, ausgebremst wurden. Aber auch hier bin ich optimistisch.

Sie beharren auf Live-Theater?
Ja, das tun wir, auch wenn wir im digitalen Raum einiges ausprobiert haben. Insbesondere neue Formen des Austauschs mit unserem Publikum haben wir erprobt, wie zum Beispiel den Twitter-Theater-Abend. Als Kunstform bleibt das Theater für mich aber analog. Es ist die Besonderheit des Theaters, im hier und jetzt einander zu begegnen.

Sie haben Autorinnen wie Maria Lazar und Anna Gmeyner wiederentdeckt – mit deren Stück „Automatenbüfett“ war das Burgtheater beim Berliner Theatertreffen eingeladen. Machen Sie da weiter?
Ja, wir sehen uns als „Haus der Dramatik“. Stücke, Plots, Autorinnen und Autoren sind für uns essenziell.

Das heißt, Sie halten die Postdramatik nach Corona sowieso für passé?
Ich denke, wir müssen uns darauf fokussieren, woher wir kommen und was eigentlich die Leute ins Theater bringt. Die Postdramatik, bei allem, was daran gut und schätzenswert ist, ist in eine gewisse Sackgasse geraten.

Sie haben einmal vorgerechnet, dass dem Burgtheater pro Lockdownwoche 230.000 Euro entfallen, dank Entlastungsmaßnahmen wie der Kurzarbeit haben Sie aber sogar positiv bilanziert.
In der Situation der Einnahmeausfälle haben uns die Zahlungen aus der Kurzarbeit wie vielen sehr geholfen. Es macht mir aber Sorgen, dass unsere Subventionen nicht an die kollektivvertraglichen Gehaltsabschlüsse der Bundesbediensteten angepasst werden: Die Personalkosten steigen, die Subventionszahlungen bleiben jedoch gleich. Wir müssen pro Jahr einen hohen Betrag aufbringen, um das auszugleichen. Das muss geändert werden.

Rechnen Sie damit, dass sich das nach Corona verschärft?
Ja. Die Anpassung der Subvenstionszahlungen an kollektivvertragliche Gehaltssteigerungen bei der Ausgliederung der Bundestheater zu vergessen, war ein großer Fehler. Und ich weiß nicht, wie wir diese Summen – die bei uns wirklich große Löcher reißen – in schwierigen Zeiten einfordern können.

Sie haben jüngst einen runden Geburtstag gehabt und konnte ihn lockdownhalber noch nicht wirklich begehen. Werden Sie das nachholen?
Ja. Man muss den Sechser in seiner Altersangabe mit einer opulenten Feier bekämpfen.

Ist man mit 60 eigentlich offiziell ein alter, weißer Mann?
Genau (lacht). Ich kanns leider nicht ändern. Es ist eher beunruhigend, dass man jetzt Anspruch auf Senioren-Jahreskarten hat.

Sie haben jahrelang im Ausland gelebt und gearbeitet und erleben Österreich jetzt als Heimkehrer. Wie ist es denn?
Nach 26 Jahren in Deutschland fiel es mir schwer, weil ich in etwas zurückkehrte, das ich damals bewusst hinter mir lassen wollte. Ich musste lernen, meine Funktion als Theaterdirektor hier neu zu interpretieren, sie ist mit meiner Intendanz in München kaum vergleichbar. Wien ist eine tolle Theaterstadt und hat sich zu einer unglaublich modernen Großstadt entwickelt. Das genieße ich sehr.

Trotzdem sagen Sie, Sie sind zurückgekehrt in etwas, das Sie hinter sich lassen wollten?
Die Fähigkeit, Konflikte auszutragen ist in Österreich nicht besonders ausgeprägt. Weil die Menschen sich viel zu selten mit offenem Visier begegnen und Klartext reden. Über die innenpolitischen Zustände bin ich total entsetzt. Das Verständnis von „Dienst am Volk/ Verantwortung gegenüber dem Staat“ ist komplett abhanden gekommen. Das habe ich nicht für möglich gehalten.

Was hat Sie denn daran überrascht?
Alle politischen Skandale der letzten Monate und Jahre weisen darauf hin, dass hier in großem Stil gemauschelt und getrickst wurde. Ich führe als Beispiel die Causa „Grasser“ oder den Alpe-Adria-Skandal an und hoffe, dass die Gerichte dem klaren Gerechtigkeitsgefühl der Menschen in diesem Land Rechnung zollen. Ich schließe aber keine anderen Parteien oder Politiker aus. Und wenn der Schein nicht trügt, haben wir es aktuell mit einer besonders perfiden und machtgierigen Form von Postenschacherei zu tun. Und weil ich auch ein stolzer Österreicher bin, tut mir das weh.