Seltsamer Premierenbesuch, selbst für einen altgedienten Kritiker: Man quetscht sich nicht in die roten Theatersessel, sondern fläzt daheim vorm Fernseher… „Le nozze di Figaro“, die Opera buffa aus dem Jahr 1786 von Wolfgang Amadeus Mozart und seinem Librettisten Lorenzo Da Ponte nach einer Komödie von Beaumarchais, wäre am 12. November im Theater an der Wien gestartet. Corona wollte es anders. Aber um nicht ins Leere zu proben, entschloss man sich, die Premiere ohne Publikum im Haus zu geben und sie im ORF III in der Reihe „Wir spielen für Österreich“ zu zeigen.

Sehnsucht, Eifersucht, Selbstsucht, Habsucht: Ja, da lebt ein ganz schöner Suchthaufen im spanischen Hause Almaviva. Hier das Grafenpaar, das sich auseinandergelebt hat. Dort die Angestellten, die sich – ein jeder ein bisschen anders – zusammenleben wollen. Schon gar Figaro und Susanna, deren Hochzeit ansteht. Aber das gibt es noch die Begehrlichkeiten des Grafen, und auch die zu hoch gesteckten Wünsche und Ziele anderer könnten diese noch verhindern.

In diesem Lustspiel im wahrsten Sinn des Wortes, das auf den ersten Blick keine heutige #MeToo-Debatte überleben würde, sind die Frauen die Projektionsflächen von Erotik und Sex. Allerdings durchkreuzen sie die Pläne der Männer, weil sie ihre eigenen haben. Und so lautet nach etlichen gesponnen Intrigen und einem finalen Verwirrspiel die Conclusio in etwa: Es lohnt sich, um die Liebe zu kämpfen, Kampf bedeutet allerdings zumeist auch Wunden.

Man werde ganz viel Mozart und Beaumarchais und die Sängerinnen und Sänger sehen und ganz wenig Alfred Dorfer, hatte der Regisseur im Interview mit uns versprochen. Versprochen, gehalten. In der komischen Oper, wegen Corona um rund 45 Minuten gekürzt, verstieg sich der Wiener Kabarettist und Satiriker nicht darin, noch eigene Spassetln hinzuzufügen. Im Gegenteil: Im heiteren Werk aus dem Jahr 1786 zeigte er mit Kateryna Sokolova als Co-Assistentin die Figuren, die sich über die Liebe lustig oder für die Liebe sogar lächerlich machen, allesamt als Gefangene ihrer persönlichen Geschichten. Und – zumal im zweiten Akt mit dem erbitterten Ringen von Graf und Gräfin - scheint man fast in einem Stück von Ibsen oder Tschechow zu sein. Wenn es nicht schon höhere Weihen wären: Alfred Dorfer hat sich bereits mit seiner ersten Inszenierung eines Musiktheaters dafür empfohlen - mit geschickter Personenführung, raffinierten Lösungen für die verzwickte Handlung und feinsinniger Durchdringung des psychologischen Kammerspiels.

Zu einem imposanten Bühnenereignis tragen auch Ausstattung (Christian Tabakoff) und Licht (Benedikt Zehm) Wesentliches bei. Im großbürgerlichen Haus der Almavivas ist vieles schon abgelebt und brüchig, selbst der Parkettboden, und es wird enger für alle, auch durch verschiebbare Wände. Und das Finale, wo es nach etlichen Täuschungen und Enttäuschungen auch viel zu bereuen gibt, verlegt Tabakoff von dem ursprünglichen Garten vor eine Remise, in der eine rote Wiener Straßenbahn mit der Nummer 2412 steht (also doch vielleicht ein winziger Gag von Dorfer alias Michael „Mike“ Weber aus MA 2412?). Die Beleuchtung wird auch zu einem eindrucksvollen Farbenspiel der Stimmungen in einer Geschichte aus Sevilla, die ausgeht von einem Mann, dem das Leben und die Liebe zwischen den Fingern zerrinnen. Von einem Patriarchen, der am Ende des 2. Aktes die Menschen um sich noch einmal wie Puppen für sich tanzen lassen möchte im Abendrot der feudalen Macht.

Dieser Graf Almaviva ist mit dem österreichischen Bassbariton Florian Boesch ideal besetzt, wie sehr der begnadete Sängerschauspieler ins Detail gehen kann, ist in der TV-Übertragung noch deutlicher zu sehen. Die Rumänin Cristina Pasaroiu gibt seine Frau mit ihrem warmen, fein geführten Sopran in melancholischen Farben. Der Kanadier Robert Gleadow platzt als Figaro fast vor Spielfreude und zeigt erdigen Bassbariton, die italienische Sopranistin GiuliaSemenzato als seine geliebte Susanne muss ihre anfangs etwas spröde Ausstrahlung erst ablegen, gewinnt aber letztlich als von den Wirrnissen hin- und hergerissene Braut. Eine Verheißung ist die erst 25-jährige Mezzosopranistin Patricia Nolz, Studentin von Boesch in Wien, die ihre Hosenrolle als frecher, hormongesteuerter Cherubino auch darstellerisch souverän meistert. Auch das restliche Ensemble rund um den kernigen Maurizio Muraro als Bartolo ist exzellent besetzt.

Stefan Gottfried, Nachfolger des 2016 verstorbenen Nikolaus Harnoncourt am Pult des Concentus Musicus Wien, schält alle Prachtfarben aus der wunderbaren Partitur Mozarts und gibt mit zügigen Tempi dem ohnehin flotten Tohuwabohu auf der Bühne noch mehr Drive. Mit seinen hervorragenden Instrumentalisten (und dem nur eingespielten Stimmen des Arnold Schoenberg Chors von Erwin Ortner) weiß er aber auch die süßen und weichen Stellen von Mozarts ewiger Erfolgsoper auszukosten. Fast gruselig war, als sich Stefan Gottfried anfangs im Theater an der Wien verneigte - vor den leeren Rängen, ohne Applaus, aber natürlich für das Publikum vor den Bildschirmen gedacht. Corona ist ein Spielverderber, aber dann doch nicht. Solche Opernabende, derzeit leider nur aus der Ferne zu bewundern, sind der beste Beweis dafür: Das Spiel wird weitergehen. Und wenn so wie hier, dann für immer.

Susanna (Giulia Semenzato) und Figaro (Robert Gleadow)
Susanna (Giulia Semenzato) und Figaro (Robert Gleadow) © TADW/Moritz Schell