Ihr Finale in Wien und Ihr Auftakt in Mailand waren durch Corona getrübt. Wie haben Sie die Zeit erlebt?

Dominique Meyer: Das war eine seltsame Periode, weil ich innerhalb von zwei Wochen die zwei wichtigsten Opernhäuser Europas schließen sollte, erst die Mailänder Scala, dann die Wiener Staatsoper. Ich war in Wien, und auf einmal waren nur noch sechs Mitarbeiter im Haus. Es begann eine sehr unsichere, neue Phase für uns. Künstlerisch und finanziell war es ein großer Verlust, doch mit Hilfe unseres kaufmännischen Geschäftsführers Thomas Platzer haben wir es trotz der um ein Drittel verkürzten Spielzeit geschafft, die Saison finanziell dennoch positiv abzuschließen. Als der Betrieb eingestellt wurde, hatten wir bereits 1,2 Millionen Euro mehr Einnahmen erwirtschaftet, als budgetiert waren. Dazu hat auch die Kurzarbeit verholfen, die zuallererst das Personal geschützt hat. Das war mir wichtig. All das hatte ich auch in Mailand zu lösen, mit anderen Regeln und einer anderen Bürokratie, aber wir haben es schließlich in beiden Häusern geschafft. Und schließlich ist es mit Unterstützung der neuen Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer gelungen, auch unseren einnahmelosen Gast-Künstlern finanziell zu helfen. Wir hätten da aufgrund der Vertragsklauseln zu „höherer Gewalt“ nicht selbsttätig werden dürfen. Jetzt können wir uns wieder in den Spiegel schauen, denn die Solisten sind das Herz und Blut in unserem Betrieb und die Opernhäuser wären nichts ohne sie.

Sie haben viele Opernaufzeichnungen gestreamt. Wie gut wurde das angenommen?

Dominique Meyer: In all den Jahren haben wir 350 Aufzeichnungen gemacht, und so konnten wir sofort mit dem Streaming beginnen. Wir haben das kostenfrei gemacht, zur Hebung der allgemeinen Stimmung, weltweit. Da hatten wir insgesamt drei Millionen Zuschauer. Beim Publikum am beliebtesten war offensichtlich “Schwanensee“, „Parsifal“ die „Frau ohne Schatten“ und der „Rosenkavalier“.

Auch Ihre Konzerte für nur 100 Zuschauer waren rasch ausverkauft.

Dominique Meyer: Binnen einer halben Stunde. Sobald die Lockerungen angekündigt wurden, haben wir sofort mit unseren Künstlern das Programm zusammengestellt. Es war auch eine Reverenz an unser internationales Ensemble, es war wie ein kleines Festival. Wir hatten immer eine sehr gute Stimmung und ich bin sehr stolz, denn viele machen jetzt eine internationale Karriere. Natürlich war es auch ein wenig traurig, die leeren Logenplätze zu sehen. Man hätte gefahrlos auch 350 Personen unterbringen können, aber so ist es halt gewesen. Es ist eben, um die Marschallin aus dem „Rosenkavalier“ zu zitieren, „ein halb Mal lustig, ein halb Mal traurig“.

Sie sind ein sehr erfahrener Intendant. Haben Sie dennoch etwas gelernt aus dieser Krise?

Dominique Meyer: Natürlich. So war es interessant, die beiden Systeme in Österreich und Italien direkt vergleichen zu können. Hierzulande handelt man sehr schnell, das kommt aus der Erfahrung mit dem Repertoiresystem. In Italien ist es komplizierter, es sind mehr Beteiligte involviert, es gibt große Diskussionen und Entscheidungen dauern länger. Natürlich war es schwieriger in der Phase, weil ich in Wien präsent war und in Italien nicht. Dazu kommt, dass die Stimmung in Italien natürlich auch ganz anders ist, weil dort die Epidemie viel stärker war. Man muss das verstehen, denn dort gibt es wirklich kaum eine Familie, die nicht von Corona betroffen war, sei es durch Erkrankung oder sogar Tod. Die Angst sitzt dort viel tiefer. Hier in Wien waren die Künstler motiviert, jeder wollte etwas beitragen. Allerdings habe ich mich manchmal vergessen gefühlt von jenen aus der staatlichen Umgebung. Zum Beispiel gab es einmal eine Sitzung zur Situation der Solosänger, zu der ich nicht einmal eingeladen war. Und wir hatten immerhin 97 Betroffene. Vier Tage später hat man sich dafür entschuldigt.

Apropos Politik – Sie kommen ursprünglich ja selbst aus dieser und haben für den legendären französischen Kulturminister Jack Lang gearbeitet, ein Politiker von besonderem Format. Wie resümieren Ihre Erfahrung mit den Politikern in Österreich?

Dominique Meyer: Die haben sich nicht eingemischt, zu wenig eigentlich. In zehn Jahren hatte ich mit sieben Kulturministern zu tun. Was kann ein Minister auch schon machen, wenn er nur ein paar Monate aktiv ist? Und wenn er zudem andere Aufgaben hat in der Regierung, bringt das auch nicht viel. Sowohl Josef Ostermayer als auch Gernot Blümel waren beschäftigt mit der Koalition und der EU, die hatten einfach keine Zeit für uns. Jack Lang war lange im Amt, hat sich in jeder Sparte ausgekannt und war besessen von der Materie. Ich bedauere es, dass man selten Fachspezialisten in dieses Amt holt und sich von Leuten beraten lässt, die nie eine Sekunde in der Oper oder im Theater verbracht haben. Das ist auch nicht gut für Entscheidungsprozesse, zum Beispiel nach der Burgtheaterkrise. Seither hat die Bundestheater Holding mehr Macht, und gleichzeitig ist die Verantwortung nicht mehr klar genug. Ich bin für klare Richtlinien und Verantwortlichkeiten und eine strenge Kontrolle. Schade, dass Frau Mayer so spät gekommen ist, denn sie hat sofort gute Entscheidungen getroffen. Ich wünsche ihr, dass sie lange bleibt, denn ohne Dauer kann man nichts bewirken und aufbauen. Man sagt immer, Österreich sei ein Kulturland, und das ist es wirklich. Wien sei die Welthauptstadt der Musik, und das stimmt auch. Man verkauft hier täglich 10.000 Karten für klassische Musik. Die Politik sollte das realisieren, denn mein Eindruck ist, dass dieser Umstand manchmal unterschätzt wird.

Was war Ihre angenehmste Erfahrung im Haus?

Dominique Meyer: Die alltägliche Arbeit mit meiner großartigen Mannschaft. Manche konnte ich aufbauen, wie Pressechef André Comploi, der jetzt mit mir nach Mailand geht und einmal ein toller Operndirektor sein wird. Oder Manuel Legris, der sich nach seiner Karriere als Tänzer zu einem der besten Ballettdirektoren entwickelt hat. Ich habe wenige personelle Änderungen gemacht, denn man sollte niemanden ohne Grund wechseln. Im Gegensatz zu dem, was früher gemacht wurde, haben wir wichtige Stellen in der Oper durch Ausschreibungen besetzt, wie etwa die Leitung der Akustik sowie der Statisterie. Manchmal haben wir nach Ausschreibungen Leute aus dem Haus selbst befördert, weil sie einfach besser waren.

Und was war die unangenehmste Erfahrung?

Dominique Meyer: Ich vergesse immer das Unangenehme.

Gibt es etwas, das sie heute anders machen würden?

Dominique Meyer: Ja, vieles. Zum Beispiel würde ich das Programm am Anfang anders gestalten. Ich habe sofort Barockoper und dann 20. Jahrhundert gemacht, weil ich Lücken im Repertoire füllen wollte. Ich habe es zu didaktisch angelegt. Es wurde mir vorgeworfen, dass wir nicht genügend zeitgenössische Musik gemacht haben. Heute würde ich vielleicht die gleichen Stücke machen, aber anders reihen. Doch hat diese didaktische Herangehensweise vielleicht sogar Früchte getragen, denn in der aktuellen, verkürzten Spielzeit war etwa „Orlando“ von Olga Neuwirth zu 100 Prozent ausverkauft.

Manche kritisierten die wenigen Uraufführungen.

Dominique Meyer: Eigentlich hatten wir fünf Werke in Auftrag gegeben, aber am Ende nur zwei geschafft. Das ist eben eine langfristige Arbeit. „Orlando“ zum Beispiel wurde 2014 beauftragt.

Was war ihr liebstes Projekt?

Dominique Meyer: Wenn man mehrere Kinder hat, sagt man auch nicht, dass man eines bevorzugt. Ich gebe auch keine Auskunft über meine musikalischen Vorlieben. Natürlich bin ich ein Musikliebhaber, aber wenn ich ein Programm auf die Beine stelle, reflektiert das nicht unbedingt meinen Geschmack. Man macht das für das Publikum, nicht für sich selbst. Ich habe zahlreiche Opern aufgeführt, die ich nicht unbedingt sehr liebe (lacht).

Bitte nennen Sie eine!

Dominique Meyer: Donizettis „L ‘Elisir d’amore“. Aber manchmal kann man seine private Leidenschaft für ein Stück auch mit dem Publikum teilen und es kommt gut an. Das war so bei „Les Troyens“ von Berlioz. Die Urfassung von Beethovens „Fidelio“ dagegen ist schlecht beim Publikum angekommen, aber das war auch ein besonderer Fall, denn da herrschte vielfach eine vorgefasste Meinung dem Stück gegenüber vor. Ich stehe immer noch zu dieser Version.

Was könnten die Probleme der neuen Direktion sein?

Dominique Meyer: Ganz klar die Folgen der Corona-Krise. Ein Drittel unseres Publikums sind ja Gäste aus dem Ausland, und die werden noch lange ausbleiben. Aber das Problem besteht in Mailand genauso. Die Staatsoper mit ihrem Repertoire-system erfordert frühzeitiges Planen, und das kann man nicht einfach so bremsen, das ist an einem Stagione-Haus wie der Scala einfacher.

Was raten Sie der neuen Direktion?

Dominique Meyer: Bogdan Roščić hat selbst seine Ideen, Ansichten und Projekte und wird das machen. Es ist kein Geheimnis, dass ich gern in Wien geblieben wäre. Aber andererseits war ich der jüngste Direktor in der Geschichte der Pariser Oper, habe das Théâtre des Champs-Élysées geleitet und war zehn Jahre an der Wiener Staatsoper. Und jetzt darf ich mit 65 Jahren die wunderbare Scala leiten. Kein Grund also, grantig zu sein.

Wo fühlen Sie sich mittlerweile denn zu Hause?

Dominique Meyer: Überall dort, wo es ein Theater gibt, gute Mitarbeiter und ein gutes Publikum. Ich mag es, jeden Tag in verschiedenen Sprachen zu sprechen. Und Mailand ist eine sehr interessante Stadt, ähnlich wie Wien von der Größe und der Entwicklung her. Das heutige Wien hat nichts zu tun mit dem der 80er-Jahre. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich diese Stadt geöffnet und unheimlich gut entwickelt. In Mailand ist das genauso. Es war eine sehr strenge, geschlossene Stadt, heute ist sie sauber, sicher und funktioniert. Es gibt ein tolles kulturelles Angebot, Musik, Museen, Ausstellungen, sowie Mode und Design. Und die Scala ist für die Mailänder genauso wichtig wie die Staatsoper für die Wiener.

Zum Schluss die Frage an den Fußballfan: AC Mailand oder Inter Mailand?

Dominique Meyer: Die schwarze Farbe auf dem Trikot habe ich schon entschieden, aber die zweite Farbe noch nicht. Und Turin ist ja auch nicht weit (lacht).