Sie sind klein, liegen "gut in der Hand", und haben Geschichte: Die Netsuke, japanische Elfenbeinminiaturen und Erbstücke der Familie Ephrussi. Edmund de Waal hat sie zum Zentrum seiner Chronik "Der Hase mit den Bernsteinaugen" gemacht. Und aus dem Erfolgsbuch ist nun ein Musical geworden. Die Uraufführung gestern, Samstag, in Linz geriet berührend, liebevoll und streckenweise schmerzlich trivial.

Europäische Geschichte

Edmund de Waal ist eigentlich Töpfer. Langsam, forschend und behutsam stellt er seine nuancierten Gefäße her. Genauso langsam, forschend und behutsam schreibt er Bücher - allen voran das Buch über die Geschichte seiner Vorfahren, der europäischen Bankiersfamilie Ephrussi. Kaum etwas erscheint abwegiger, als dass in dieser historisch wie geografisch weit verzweigten, von Flucht, Enteignung und Vernichtung schwer gezeichneten, von de Waal mit solcher Sorgfalt und Selbstreflexion zusammengetragenen Geschichte der Stoff eines flotten Musicals schlummern sollte.

Henry Mason, Regisseur und Librettist der Bühnenfassung, hat sich über das Unwahrscheinliche getraut - und mehr als einen Achtungserfolg eingefahren. Mit den magischen Mitteln der Bühne bringt er die Überzeitlichkeit der Erinnerung als poetische Gleichzeitigkeit der Generationen auf die Bühne, strickt liebevolle Szenen aus wenig Requisite und effektvollen, simplen Projektionen, erschafft durch den Einsatz von Kindern und älteren Darstellern ein berührendes Miteinander, und lässt Protagonisten, Zeugen und Statisten im Rotationsprinzip ein Kaleidoskop aus Geschichte, Geschichten und Beziehungen entstehen, das den epischen Ausmaßen des Buches durchaus gerecht wird.

Liebevolle Regie

Unter dieser feinen Regie gedeiht das Schauspiel von etwa Christof Messner als Edmund, Anais Lueken als seine Frau Sue und Großmutter Elisabeth, Carsten Lepper als Fin-de-siecle-Mäzen Charles, Myrthes Monteiro als glamouröse Matriarchin Emmy oder Riccardo Greco als Bankdirektor Viktor ganz prächtig.

Auch die familie macht Augen...
Auch die familie macht Augen... © Landestheater Linz/Reihard Winkler

Sie kreisen um Edmund, der sich auf die Spuren seiner Vorfahren begibt, und vor allem um die rote Glasvitrine mit dem einzig verbliebenen Erbstück der einst so uferlos reichen Familie: Die Sammlung von 264 japanischen Netsuke. "Die kleinen Dinge" heißt eine zentrale Nummer aus dem Liederreigen des Abends. Es war der Zauber des "Hasen mit den Bernsteinaugen", von den ganz großen Dingen durch die ganz kleinen zu erzählen. Diesen Zauber hat man auf die Bühne geschickt mitgenommen.

Typische Sünden

Dennoch leidet dieser "Hase mit den Bernsteinaugen" an den typischen Sünden des Musical-Genres. Die Musik von Thomas Zaufke und viele der dazugehörigen Songtexte bilden einen eintönig süßlichen Film über dem Geschehen und ziehen es immer wieder in schwer erträgliche Trivialität. Das schmerzt und knirscht insbesondere dann, wenn sich unter beherzt geschwungenen Hakenkreuz-Fahnen und vor dem Hintergrund der tiefen historischen Wunde des Massenmords jedweder Kitsch oder Versuche, dem Kitsch durch Ironisierung ein Schnippchen zu schlagen, eigentlich von selbst verbieten. Mason und Zaufke sind dem Problem bewusst und sicherlich mit Bedacht entgegengetreten - haben aber keine befriedigende Lösung dafür gefunden.

Schrecklich und wahr

"Der Hase mit den Bernsteinaugen" ist ein wunderbares Buch. Schön und schrecklich, wahr und wichtig. Es erlaubt und es verträgt selbst ein Musical. Seine Erzählung und ihre Protagonisten - die Netsuke, von denen de Waal 170 Stück dem Jüdischen Museum Wien als Dauerleihgabe überlassen hat - sind alles, was geblieben ist von diesem außergewöhnlichen, fabelhaften und schamvollen Kapitel europäischer und österreichischer Kulturgeschichte. Edmund de Waal selbst kam zur Uraufführung nach Linz - und zeigte sich beim dröhnenden Schlussapplaus zu Tränen gerührt. Er war nicht der einzige.