Das geht uns alle an: Ein unbegabter Herrscher verliert die Gunst der Untertanen an einen Verführer, der seine Macht- und Rachlust religiös verbrämt: Dionysus. Der kehrt nach Theben heim, um den Tod seiner Mutter Semele an deren Verwandten zu rächen, die mit der Sache nichts zu tun hatten. Er tut das unter Mithilfe der nur zu willigen Thebener, die nachher ihrerseits mit den Mordtaten nichts zu tun haben wollen.

Henze, der das Stück für die Salzburger Festspiele 1966 geschrieben hat, dachte an politische Verführer nicht nur der jüngeren europäischen Vergangenheit, Warlikowski an die der Gegenwart, insbesonders in seiner Heimat Polen. Dass er auf platte Aktualisierung verzichtete, zählt zu den Stärken seiner Interpretation.

Auf der riesigen Breitwandbühne sehen wir die unversöhnlichen Welten des Königs Pentheus und des Dyonysus in mehreren Räumen aufeinanderprallen. Die hohe Felswand dahinter dient Warlikowski zur Projektion von Schwarzweißvideos, die verborgene Vorgänge unter den Dionysus-Anhängern sichtbar machen. Nicht immer fällt es leicht, dem synchronen Geschehen überall zu folgen. Das Panorama des nahenden Schreckens entwickelt im Lauf des Abends aber einen Sog, dem sich das zur Pause noch ratlose Publikum letztlich nicht entziehen konnte. 

Wesentlichen Anteil daran hat die Droge Musik. Henze, der in dieser Oper auch mit seinen verkopfteren Zunftgenossen abrechnet, denen er die Musik der trockenen Pentheus-Welt ablauscht, steigert sich in der Orgie in ein atemberaubendes Furioso, das die Wiener Philharmoniker unter Kent Nagano mit hörbarer Lust und Hingabe in den Saal schleuderten. Dazu schlugen die konvulsivischen Zuckungen der Dionysusanbeterin Rosalba Guerrero Torres, die sich nackt die Seele aus dem Leib tanzte, den Saal in ihren Bann.

Großartig die Sängerleistungen: Russel Braun, der kürzlich in Einems "Besuch der Alten Dame" in Wien den todgeweihten Alfred Ill sang, verkörpert auch den verzweifelten König Penteus mit beklemmender Bühnepräsenz. Verführerisch der betörende Tenor des Dionysus Sean Panikkar. Bewegend gestaltet Willard White das Portrait des alten Großvaters des Penteus, Cadmus. Mit strahlendem Tenor zeichnet Nikolai Schukoff den wankelmütigen Seher Tiresias.

Unter den Frauen sticht Vera-Lotte Böcker aus Autonoe hervor. Sie leiht der Mutter der von Zeus verführten und vernichteten Semele eine Stimme, die keinen Schwierigkeitsgrad zu scheuen braucht. Intensiv und durchschlagskräftig auch Tanja Ariane Baumgartner als Agave, die ihrem Sohn Penteus im dionysischen Taumel selbst den Kopf abschlägt. Grandios der Chor der reulosen Verführten, aus der Wiener Staatsoper nach Salzburg transferiert. Einhelliger Jubel für ein geschlossenes Gesamtkunstwerk, wie es auch Festspielen nur in Ausnahmefällen gelingt.