Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – die Schlagworte der französischen Revolution gingen als Maxime der Aufklärung in die europäische DNA ein. Philipp Blom spricht morgen zur Eröffnung der Salzburger Festspiele über die Aufklärung, die er gefährdet sieht. Sie sind ein Experte für die Zeit der Aufklärung.

Warum haben sich die Festspiele dieses Thema gewünscht?
Philipp Blom: Vielleicht gibt es Menschen, die denken, dass es politisch wichtig wäre, Gedankenfiguren wie die Aufklärung zu beleben. Diese Ansicht würde ich teilen. Es ist möglich, dass die Aufklärung unter dem Druck ihrer Nebeneffekte zusammenbricht. Der Klimawandel, die Digitalisierung und rabiater Kapitalismus sind die politischen und ökonomischen Kinder der Aufklärung. Das, was wir heute unter Aufklärung verstehen, die Menschenrechte, die Gleichheit, könnten einknicken. Wie will man auf dem Grundsatz der Gleichheit beharren, angesichts der Migrationskrise? Sagen wir: „Das sind Menschen wie wir, die jedes Recht haben, ihr Leben so zu gestalten wie wir“? Dann müssen wir sie alle reinlassen. Wenn wir nicht alle hereinlassen, dann haben wir den Gleichheitsgrundsatz fallen gelassen.

Aber dieser Gleichheitsgrundsatz war ja in Wirklichkeit noch nie eine gesellschaftliche Realität.
Er beschreibt keine Realität, sondern eine Ambition. Menschen sind nicht gleich, nicht vor dem Gesetz noch sonst irgendwo. Menschen sind auch nicht frei. Das sind Fixsterne, nach denen man sich orientieren kann. Wenn man das tut, ist vielleicht auch die Realität ein wenig menschlicher, als sie es sonst wäre.

Das Projekt Europäische Union ist als gewaltiges Friedensprojekt Europas aber doch gelungen?
Wenn Sie „gelungen“ sagen, klingt das, als wäre das eine abgeschlossene Sache. Aber das Projekt war kein Zufall, sondern das einer traumatisierten Generation nach 1945, die sich gesagt hat: Wir müssen Europa so umbauen, dass so etwas nie mehr passieren kann: Wir müssen auf Umverteilung setzen, auf Bildung, auf transnationale Strukturen. Für eine neue Generation auch von politisch Verantwortlichen ist das kein Diktum mehr, weil das Trauma nicht mehr besteht. Unter Jungen ist die Unterstützung von starken politischen Figuren viel stärker als unter Älteren. Das ist erschreckend, aber historisch verständlich. Wir lernen nicht aus der Geschichte, aber wir reagieren auf Traumata. Das Projekt war gelungen, für eine Zeit. Jetzt wird es wieder zerstört.

Gibt es jetzt ein Trauma, das Politik und Gesellschaft anleitet?
Vielleicht ein unterschwelliges: eine Angst vor Statusverlust, vor rapider Veränderung. Eine liberale Demokratie beruht auf einem Versprechen: Ausbildung und harte Arbeit bedeuten ein Häuschen, ein Auto, die Kinder auf einer besseren Schule. Das ist vorbei. Heute haben Leute zwei bis drei Jobs und sie wissen, dass sich ihre Situation nie verbessern wird. Wenn ich mich selbst ausbeuten muss, nur um stillzustehen, lehne ich ein System zu Recht ab. Die Ursachen dafür sind aber nur kompliziert zu erklären: die Effekte von selbstlernender Technologie, die hochkomplexen Verstrickungen globaler Märkte. Es ist einfacher zu sagen: „Schau, die da, die haben eine andere Hautfarbe und Sprache, die glauben an einen anderen Gott, nehmen euch die Jobs weg und vögeln eure Frauen.“

Dieser Wunsch wird politisch ausgenutzt.
Die Politiker, die erfolgreich sind, geben sich alle als Systemgegner. Alle linken Kampfbegriffe werden von der Rechten übernommen. In so einem Klima kann etwas Fragiles wie die Aufklärung für ein, zwei oder fünf Generationen verschwinden. In China wird ein Social Credit System erprobt, das Personen analysiert und ein Dossier mit Plus/Minus-Punkten erstellt. Diese Ratings entscheiden, ob Sie einen Kredit bekommen, eine Reise machen können, regulieren den Zugang zu guten Schulen et cetera. Das ist ein sehr effektives System.

Solche Systeme bedeuten ein Ende der Freiheit.
Natürlich, aber die meisten Menschen wollen keine Freiheit. Sie wollen so leben, wie sie möchten. Ein voller Kühlschrank, etwas im Fernsehen, Internetzugang. Meinungsfreiheit ist ein Luxus, und viele Menschen kommen nur damit in Berührung, wenn sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht konform gehen können. Wenn man zum Beispiel schwul ist, dann wird die Freiheit wichtig. Man kann hochfunktionale, kapitalistisch erfolgreiche Gesellschaften bauen, in denen es die Ideale der Aufklärung nicht gibt. Und in denen die meisten Menschen ein ganz gutes Leben haben.

Das klingt alles sehr düster. Derzeit wird ja ernsthaft diskutiert, ob man Ertrinkende im Mittelmeer retten soll. Besteht noch Hoffnung?
Ja, anständig angezogene Menschen auf Kaffeehausterrassen und in Parlamenten diskutieren darüber. Man muss sich überlegen: Will ich in einer reichen Festung leben, um meine Privilegien zu bewahren? Es gibt keinen einfachen Ausweg. Es hat letztlich mit Angst zu tun. Ängstliche Menschen nehmen die Welt anders wahr, denken mehr an Verteidigung, Identität und Herkunft. Zuversichtliche Menschen sind eher bereit, solidarisch zu leben und in Dialog zu treten. Das heißt, die einzige Lösung ist, Menschen wieder Hoffnung und Zuversicht zu geben.

Aber wie?
Das ist sehr schwer. Ich glaube nicht, dass das innerhalb eines Systems, das auf wachsende Wirtschaft angewiesen ist, möglich ist. Das Konsummodell war in der Nachkriegszeit sinnvoll, heute ist es tot. Es gibt Leute, die alles haben, und Leute, die nie etwas haben werden. Wir müssen begreifen, dass es fundamentale Änderungen braucht. Man muss Gewohnheiten bis ins tägliche Detail umstellen. Unser Reiseverhalten, den Fleischkonsum und so weiter. Historisch sind solche Veränderungen nur passiert, wenn wir vor rauchenden Trümmern gestanden sind. Es wäre großartig, wenn wir es schaffen könnten, bevor wir vor rauchenden Trümmern stehen. Weil man nie weiß, wer dann überhaupt noch steht.